Sedanstraße 6II, 19th December 1896

Max Reger to August Doering

Object type
Letter
Date
19th December 1896 (source)
Sent location
Sedanstraße 6II
Source location
DE,
Dortmund,
Stadt- und Landesbibliothek Dortmund,
Handschriftenabteilung,
Atg. Nr. 12732

Senders
  • Max Reger
Recipients

Incipit
Hochgeehrter Herr!
Verzeihen Sie zunächst, daß ich auf Ihren mich so hocherfreuenden Brief […]

Regesta
begründet verspätete Antwort auf Brief mit Verpflichtungen bei der Infanterie während seines einjähirgen Freiwilligenjahres • gesteht seine Bemühungen ein, »Bach, das unerreichte Muster des Orgelstils nachzuahmen«, ist mit dem Ergebnis jedoch nicht zufrieden • klagt in aller Offenheit über seine Situation: »Ich bin aus den ärmlichsten Verhältnissen hervorgegangen u. muß mir jetzt noch mein Einjährig=Freiwilligenjahr selbst bezahlen [...]. Kein Mensch gibt mir einen Pfennig; ich stehe allein da; es kümmert sich niemand um mich« • ist zermürbt von Feindschaft anderer Musiker seiner Musik gegenüber • dankt dem E. überschwänglich für dessen Interesse an seiner Musik • berichtet verzweifelt von vergeblicher Stellensuche und über seine finanzielle Notlage: »Seit 5 Wochen habe ich noch nicht einmal ordentlich Mittag gegessen« • dankt für positives Urteil über die Suite • verspricht, im Januar eine Analyse zu senden • erklärt seine Klanghärten mit seinem jugendlichen Alter und seiner »Veranlagung für das Herbe Strenge« • beschwört seinen künstlerischen Kampfgeist: »ich lebe u. sterbe für meine heilige, hochheilige Kunst« und bezeichnet sich selbst als »Anti=Lisztianer« • nennt sich selbst einen »armen musikalischen Taglöhner«
Remarks

Reger hatte im Oktober 1896 seine Miltärzeit als Einjährig-Freiwilliger begonnen und musste alle Kosten für Verpflegung, Ausrüstung und Unterbringung selbst bezahlen; nach einer Fußgelenkentzündung im November 1896 hoffte er vergeblich darauf, als dienstuntauglich entlassen zu werden

Referenced works

Publications

1.

Sedanstr. 6II Wiesbaden 19. Dez. 96

2.

Hochgeehrter Herr!
Verzeihen Sie zunächst, daß ich auf Ihren mich so hocherfreuenden Brief erst heute antworten kann – aber ich glaube die eine Entschuldigung wird wohl genügen, ich diene jetzt als Einjährig-Freiwilliger bei der Infanterie u. konnte erst heute zum Schreiben kommen. Also Verzeihung! Was nun die Stellen anbetrifft, so nehmen Sie bitte einfach das tiefere E, im Augenblicke habe ich kein Exemplar zur Hand; aber ich gebe Ihnen noch nähere Nachricht. Zur Abfassung der Analyse bin ich selbstverständlich mit größtem Vergnügen bereit u. hoffe ich, Ihnen selbe anfangs Januar zusenden zu können. Haben Sie noch meinen besten herzlichsten Dank für Ihr so liebenswürdiges u. schmeichelhaftes Urteil über meine Suite [op. 16]. Ich bin ja noch sehr jung, 23 Jahre – u. da verzeihen Sie bitte so manche „Härte des musikalischen Ausdrucks!“ Es liegt aber so in meiner Natur, ich habe bloß Veranlagung für das Herbe Strenge; in folge dessen wird alles bei mir etwas steif u. eckig.
Daß ich mich bemüht habe, Bach, das unerreichte Muster des Orgelstils nachzuahmen, so weit es in meinen schwachen Kräften steht, haben Sie ja gemerkt; es ist nur leider so schlecht gelungen.
Ich bin aus den ärmlichsten Verhältnissen hervorgegangen u. muß mir jetzt noch mein Einjährig-Freiwilligenjahr selbst bezahlen, u. da heißt es abends nach dem Dienst arbeiten. Kein Mensch gibt mir einen Pfennig; ich stehe allein da; u kümmert sich niemand um mich; im Gegenteil, meine Herren Kollegen (die Herren Musiker) thun ja alles um mich „klein“ zu kriegen – u. da können Sie Sich ja vorstellen, mit welcher Freude ich Ihren Brief begrüßte. Es war ein Lichtstrahl in ein freudloses Dasein, ein Lichtstrahl, endlich mal jemand zu finden, der für mein Schaffen liebevolles Interesse zeigt. Haben Sie nochmals tausend Dank dafür. Seit 5 Wochen habe ich noch nicht einmal ordentlich zu Mittag gegessen, da mir die Mittel dazu fehlen, u so schleppe ich mich dann weiter von einem Tage zum anderen. Ich habe alle Leute gebeten mir eine Stellung zu verschaffen – ja – ja – da wird man mit Versprechungen hingehalten u. – – es ist doch nichts. Da vergeht einem die Lust am Leben. Und so soll es nun jahraus-jahrein gehen. Nun, ich verliere den Mut nicht; ich lebe u. sterbe für meine heilige, hochheilige Kunst – u. finde ich keine Anerkennung, so soll man mich einfach so einscharren. Sie lächeln wohl, daß ein junger Mensch solche Ansichten haben kann. Glauben Sie mir, ich habe einen schweren Weg gehabt, u. er wird immer schwerer, da ich einsehen gelernt habe, daß ich mit meinen Kompositionen doch nie etwas erreiche. Es ist ja sehr schwer mit irgendeinem Werke durchzudringen, besonders, wenn man wie ich Anti-Lisztianer ist. Nun verzeihen Sie mir meine lange Epistel, die ich in meinem Elend vom Stapel gelassen habe. Hoffentlich habe ich auf der Adresse Ihren verehrten Namen richtig geschrieben u. es würde mich sehr sehr freuen, wenn Sie mich recht balde wieder mit einem Briefe erfreuen würden. Analyse etc folgt alles nach, wenn ich Antwort habe; da ich vor Weihnachten nicht dazu kommen kann.
Genehmigen Sie noch die Versicherung meiner Ausgezeichnetsten Hochachtung u. bewahren Sie bitte Ihr gütiges Wohlwollen weiter

einem
armen
musikalischen Taglöhner
namens
Max Reger

Wiesbaden
Sedanstraße 6II

Vielen, vielen Dank nochmals

Object reference

Max Reger to August Doering, Sedanstraße 6II, 19th December 1896, in: Reger-Werkausgabe, www.reger-werkausgabe.de/mri_postObj_01009585.html, version 3.1.0-rc3, 20th December 2024.

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