Leipzig, 15th November 1946
Karl Straube to Oskar Söhngen
Karl Straube, Briefe eines Thomaskantors, hrsg. von Wilibald Gurlitt und Hans-Olaf Hudemann, Stuttgart 1952, S. 211–213
1.
Leipzig, den 15. November 1946
Hochverehrter, lieber Herr Dr. Söhngen!
[…]
Haben Sie von Herzen Dank für alle Güte, die aus den Zeilen Ihres Schreibens so beredt zu mir spricht. Der Auftrag [eine wissenschaftliche Ausgabe der Orgelwerke Regers], den Sie mir anvertrauen, ist ein so ehrenvoller und für mich in Erinnerung an meinen großen Freund innerlich tief bewegender, daß ich kaum wage, seine Verwirklichung zu übernehmen.
Die Schwierigkeiten, die sich eröffnen, beruhen in den Vortragszeichen, die Reger dem Notenbilde seiner Werke mit auf dem Weg in die Öffentlichkeit aufpackte. Durch eine Überfülle von dynamischen und agogischen Bezeichnungen versuchte er seine eigene Auffassung klar darzulegen. Es sind nicht nur die Orgelwerke, auch das wunderbare d-moll-Streichquartett [op. 74], die Sinfonietta [op. 90] und G-dur-Serenade [op. 95], das Violinkonzert [op. 101] und die Hillervariationen [op. 100] leiden unter der gleichen Belastung, die mehr oder minder das Gegenteil von dem erwirkte, was Reger zu erreichen wünschte. Erst als er selber auf der Tonkünstlerversammlung 1904 in Frankfurt am Main die C-dur-Violin-Klaviersonate op. 72 mit Henri Marteau zur Aufführung brachte, erkannten die einfühlungsfähigsten der anwesenden Musiker, mit welcher Feinheit des Empfindens die drohenden und unter den Händen des Komponisten gelöst und durchgeistigt wurden, so daß eine vollkommene Einheit im Aufbau der vier Sätze dieser Sonate sich offenbarte. Vor allem war es eine Übergangsdynamik, die zur Anwendung kam, ferner wurden die Zeitmaße im Gegensatz zu den übertriebenen Metronom-Angaben überaschend gemäßigt und ausgeglichen durchgehalten.
Dieser Widerspruch zwischen gedruckter Vorlage und authentischer Wiedergabe durch den Komponisten findet seine Erklärung in religiösen Grundlegungen des geistigen Menschen Max Reger […].
Er fühlte sich als ein von Gott gesandter Bote, der in dieser Welt die deutsche Musik von den Irrwegen der Wagnerischen Kunst zurückführen sollte zu den Werken der großen Klassik. So hat er mir in ernsten Gesprächen oder auch brieflich seinen Auftrag sehr viel mehr als nur einmal gedeutet. Diese kindlich-gläubigen Äußerungen zeugen von seinem festen Glauben an eine ihm anvertraute Sendung im göttlichen Dienst. Eine Tatsache von wichtiger Bedeutung für die Erkenntnis des wahren Reger.
Er fühlte sich als Durchgang einer ewigen Macht und sah staunend die eigenen schöpferischen Leistungen an, die sein menschliches Vermögen nicht hervorgebracht haben könne. Dieses Erleben führte ihn zu jener Demut und Bescheidenheit gegenüber dem eigenen Wirken, die als einer der schönsten und bemerkenswertesten Züge in Regers reiner und echter Persönlichkeit anzusehen sind.
Aber daraus erwuchs eine Schwierigkeit, die darin bestand, daß es ihm unmöglich war, nach den Ekstasen des Schaffens Distanz zu den Äußerungen seines Geistes zu finden, die überirdischen Ursprunges seien. Die rechten Worte und Zeichen festzulegen, die einem Dritten die Möglichkeit gaben, einzudringen in diese geheimnisvolle Tonwelt, das war ihm unmöglich.
[…]
Ein ähnliches Problem [wie bei Anton Bruckner] liegt auch bei Max Reger vor, nur ist dieses wesentlich komplizierter, weil in den vorliegenden gedruckten Ausgaben die Vortragszeichen vom Komponisten in fast verwirrender Fülle eingetragen sind und somit eine musikwissenschaftliche Ausgabe vorliegt, die von der höchsten Autorität, nämlich dem Autor selber, gestützt wird. Werden aber diese Hinweise befolgt, so ist das Ergebnis im ganzen unerfreulich und klanglich wenig befriedigend. Die Aufführung der Sinfonietta [op. 90] im Jahre 1907 durch die Berliner Philharmoniker unter Leitung von Arthur Nikisch ist das oftgenannte berühmte Beispiel. Erst seitdem Reger in Meiningen als Dirigent in nächste Beziehung zu einem Orchester kam, ist in dieser Frage bei ihm eine Wandlung klar zu erkennen. Von den letzten Orchester- und Kammermusikwerken kann gesagt werden, man lege Partitur und Stimmen auf die Pulte und sie werden klingen.
Von den Orgelwerken kann ich eine musikwissenschaftliche Ausgabe nicht veröffentlichen, da eine solche schon vorliegt. Wohl wäre es möglich, in einer praktischen Ausgabe den künstlerischen Willen dieses großen Meisters klar darzulegen, und es könnte dadurch eine stärkere Auswirkung dieser Werke auf die musikalische Öffentlichkeit erreicht werden.
Wenn Sie diesen Gedanken, hochverehrter Herr Dr. Söhngen, aufnehmen wollen, so werden sich viele Organisten darüber freuen, und ich werde mich bemühen, den Plan in Angriff zu nehmen, auch wenn ich ihn bei meinem Alter vielleicht nicht werde durchführen können.
[…]
In Verehrung und Ergebenheit der Ihre!
Karl Straube
Object reference
Karl Straube to Oskar Söhngen, Leipzig, 15th November 1946, in: Reger-Werkausgabe, www.reger-werkausgabe.de/mri_postObj_01015023.html, version 3.1.0, 23rd December 2024.
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