Weiden, 3rd December 1899

Max Reger to Alexander Wilhelm Gottschalg, Urania

Object type
Letter
Date
3rd December 1899 (source)
Sent location
Weiden
Source location
DE,
Berlin,
Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz,
Musikabteilung,
N.Mus.ep. 2576

Senders
  • Max Reger

Incipit
Hochgeehrter Herr Professor!
Besten Dank für Gütige Zusendung der N° 12 der Urania […]

Regesta
dankt für Rezensionen in der Zeitschrift Urania • teilt die Kritik des E. zur Anfangsfuge in op. 16 (Orgelsonate) und bekundet: »Ein einziger richtiger Einfall von 2 Noten ist werthvoller als ein ganzer Zentner musikalischer Gelehrsamkeit« • macht jedoch deutlich, dass die Beherrschung des Handwerks, insbesondere durch das Studium Bachs, zur Schaffung von guten Werken unerlässlich sei • nennt Bach mit Hochachtung »ein Welträthsel!« • kritisiert die schlampige Musikausbildung an den Konservatorien • lehnt Formenlehre ab: »Musik ist etwas so Abstraktes, das sich nie u. nimmer in Formen zwängen läßt, ebenso wenig wie das Seelenleben eines Menschen, falls er eines hat« • drückt seine Hochachtung gegenüber Franz Liszt aus • dankt für Absicht, sein Porträt als Beilage der Zeitschrift Urania zu bringen • hofft auf positives Urteil des E. zur Choralphantasie »Straf mich nicht in Deinem Zorn [op. 40 Nr. 2] • dankt für Artikel des E. für die Neue Zeitschrift für Musik • erkundigt sich, ob der E. die Lieder opp. 35 und 37 erhalten habe • verspricht bald Acht [ausgewählte] Volkslieder [WoO VI/11], die Orgelsonate [op. 33] »u. mehr« zu senden
Remarks

Publications

Der junge Reger. Briefe und Dokumente vor 1900, hrsg. von Susanne Popp, Wiesbaden 2000 (= Schriftenreihe des Max-Reger-Instituts, Bd. XV), S. 472–474

1.

Weiden, Allee 22, 3. Dez. 1899.

2.

Hochgeehrter Herr Professor!
Besten Dank für Gütige Zusendung der No 12 der Urania, welche ich samt Ihrer freundlichen Karte gestern erhielt, sodaß sich unsere Sendungen gekreuzt haben. Die so anerkennenden Besprechungen habe mit größter Freude gelesen u. sage Ihnen allerbesten Dank dafür. Op 7 ist noch sehr in “Kinderschuhen” u. mit op 16 haben Sie durch u. durch Recht mit der Eingangsfuge. Göthe mit seinem “Grau, lieber Freund, ist alle Theorie” etc hat nur allzurecht. Alles was nach Schule riecht, kann künstlerisch nie vollgewichtig sein. Ein einziger richtiger Einfall von 2 Noten ist werthvoller als ein ganzer Zentner musikalischer Gelehrsamkeit, die nur hemmend wirkend kann, wenn selbe als Zweck erscheint. Dabei betone ich aber nachdrücklichst, daß nur der im Stande ist, vollgewichtige Kunstwerke zu schaffen, welche dem Zahn der Zeit trotzen, der das Technische, gewissermaßen das Handwerksmäßige der Komposition gründlichst versteht u. durch u. durch beherrscht. Wie er zu dieser Herrschaft kommt, ist egal; nur haben muß er sie. Am schnellsten kommt einer dazu durch eingehendstes Studium Bach’s. Je älter man wird, je mehr man lernt die Spreu vom Weizen zu sondern, je mehr das eigentliche Wesen aller KunstAusdruck des menschlichen Geistes u. menschlichen Fühlens – erkennt, desto gigantischer dieser Mann. Bach ist ein Welträthsel! Ich bedauere es daher aufs Tiefste, wenn man sehen muß, wie an unseren Musikschulen etc da gesündigt wird. Da werden Komponisten von “Gottes Gnaden” zu 100 x tausenden erzeugt u. überall fehlt dann die Herrschaft! Dadurch daß schließlich einer mal eine Fuge schreiben kann schön nach der Schablone, ist er noch kein Komponist – aber auch dadurch daß einer einen Einfall hat, selben niederschreibt, aber an allen Ecken u. Kanten seine technische Unfähigkeit beweist, ist einer ebenfalls noch kein Komponist. Und: ein größeres Märchen wie das Märchen von der musikalischen Form ist der Welt noch nicht aufgebunden worden. Musik ist etwas so Abstraktes, das sich nie u. nimmer in Formen zwängen läßt, ebenso wenig wie das Seelenleben eines Menschen, falls er eines hat. Leider nimmt heutzutage das Interesse an Kunst immer mehr ab, u. es scheint als ob die Parole ausgegeben wäre: Lange Beine u. Parademarsch!
Wie sehr hatte Liszt recht mit seinem Ausspruch:
Jeder Gedanke schafft sich selbst die Form!
Das ist echt Liszt! Echt, die vornehme, in sich selbst gefestigte, weit u. weitschauende Natur Liszt’s! Ich beneide Sie ernstlich, daß Sie so viel Gelegenheit hatten u. den so von den Göttern begnadeten zu Ihren Freunden rechnen zu können. Sein Erbe ist leider nicht angetreten worden.
Ich kenne unter unseren heutigen Klaviervirtuosen, von denen ihm wohl mancher technisch nahekommen kann, keinen, der sich mit ihm messen könnte; u. gar erst mit seiner so unendlich vornehmen Denkungsweise!
Es ist so liebenswürdig von Ihnen mein Portrait als Beilage beilegen zu wollen; ich habe gestern noch an Herrn Spitzweg (Aibl) geschrieben; er thut es sicher. Ihnen gegenüber aber kann ich meiner so herzlichsten Dankbarkeit für All das, was Sie für mich thun, nur dadurch den Ihnen wohl am sympathischsten Ausdruck geben, daß ich verspreche, nie von meiner Bahn abzuweichen u. stets nur das Beste in unsrer Kunst zu wollen!
Besten Dank auch für gütige Notiz betreff. der neuen Orgelfantasie u. Violinsonaten. Die neueste Orgelfantasie (Straf mich nicht in Deinem Zorn) [Opus 40 Nr. 2] hoffe ich, daß sie Ihnen ebenso gefällt. Herr Spitzweg hat nun auch all das Neue gekauft.
Die gütigst angebotenen 6 Exemplare von No 1 der Urania erlaube ich mir mit verbindlichstem Danke anzunehmen u. Sie um Zusendung zu ersuchen, wenn selbe gedruckt sind; ich werde mir vom Verleger (Herrn Conrad) überdies noch mehr Exemplare bestellen. Besten Dank!
Der Artikel für die N. Zeitschrift f. M. dürfte in Anbetracht des vielen Materials ziemlich umfangreich werden; gestatte mir Ihnen auch hierfür meinen besten Dank zu sagen. Gestern werden Sie auch die Lieder op 35 u. 37 erhalten haben; ich hoffe, zuversichtlich, daß dieselben Ihren Beifall finden werden; die Begleitungen sind sämtlich leicht, müssen aber sehr delicat gespielt werden. In Bälde kommen 8 Volkslieder für gemischten Chor [WoO VI/11], Orgelsonate [op. 33] u. mehr.
Mit den besten Wünschen für Ihr
Wohlergehen u. dem Ausdrucke
des allerherzlichsten Dankes

Ihr
mit vorzüglichster Hochachtung
u. besten Grüßen
stets dankbarst ergebenster
Max Reger.

Heute ist Sonntag; da benütze ich meine freie Zeit zum Briefschreiben; denn morgen beginnt wieder eine arbeitsame u. arbeitsfrohe Woche!

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Max Reger to Alexander Wilhelm Gottschalg, Urania, Weiden, 3rd December 1899, in: Reger-Werkausgabe, www.reger-werkausgabe.de/mri_postObj_01006540.html, last check: 22nd November 2024.

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