Wiesbaden, 11th April 1897
Max Reger to Adalbert Lindner
Weiden,
Stadtmuseum Weiden, Max-Reger-Sammlung,
L 28
- Max Reger
Lieber Freund!
Ganz erstaunt sehe ich Dich diese „Schriftzeichen“ betrachten, da ja doch […]
Der junge Reger. Briefe und Dokumente vor 1900, hrsg. von Susanne Popp, Wiesbaden 2000 (= Schriftenreihe des Max-Reger-Instituts, Bd. XV), S. 295–297
Wilfried Jung, Der Künstlerbrief als Informationsquelle – am Beispiel Max Reger, Nürnberg 1970, S. 16
Deutsche Volksbildung 11 (1936/47), S. 4
Max Reger, Briefe eines deutschen Meisters. Ein Lebensbild, hrsg. von Else von Hase-Koehler, Leipzig 1928, S. 55–56 (dort als 10.4. 1897)
Adalbert Lindner, Max Reger. Ein Bild seines Jugendlebens und künstlerischen Werdens, Stuttgart 1922, S. 104–105, 288
Reger-Studien 8, S. 245
1.
Wiesbaden, 11. April 97.
Sedanstr. 6 II r.
Lieber Freund!
Ganz erstaunt sehe ich Dich diese „Schriftzeichen“ betrachten, da ja doch seit über einem halben Jahre Du keineswegs Nachricht von mir hast. Nun über die Hälfte hätten wir schon durchgebissen beim Kommiß; im Anfange war’s schwer, sehr schwer; aber jetzt bin ich’s schon gewöhnt. Es wird viel, ungeheuer viel von uns verlangt; aber für den Körper ist es geradezu grandios. So 6 Stunden täglich nur in der frischen Luft draußen herumzumarschieren, zu exerzieren, da gibt’s einen Hunger u. Durst, der göttlich ist. Mein armer Bierbauch ist verschwunden; dafür bin ich aber zähe geworden; jetzt ist der Dienst ja schon interessanter; ist auch der Tornister schwer, so schleppt man ihn doch; zumal wenn man einen so ausgezeichneten Hauptmann hat, der Alles mit guten Worten macht. Das ist viel wert. Ja, ich möchte Euch Vaterlandskrüppel mal sehen, wenn Ihr unser Exerzieren mitmachen müßtet; ich glaube in der ersten halben Stunde da könnte man Euch aber einsalzen u. die „Maroden“ auf dem Krankenwagen nach Hause fahren.
Wir sind’s aber schon gewöhnt; hät[t]’s in meinem Leben nicht geglaubt, jeden Tag um 5 oder noch früher aufstehen zu können; aber es wird fertig gebracht, selbst dann wenn die Herren Einjährigen natürlich ohne Urlaub bis 2 oder 3 Uhr früh gekneipt haben, was aber höchstens alle 8 Wochen einmal vorkommt. Manchen Tag ist unser Dienst so, daß wir gar nicht zum Essen kommen können u. erst abends um 8 Uhr was zu Hause kriegen. Aber das gewöhnt sich alles. Ausgehalten wird’s doch u. ich merke, man wird ein bombenkräftiger Mensch. Ich fühle jetzt ein Kraft- u. Gesundheitsgefühl in mir wie ich es noch nie in meinem Leben verspürt; noch nie habe ich besser gesehen wie jetzt, wo sich die Augen durch das viele Schießen so sehr gekräftigt haben. Am Anfange traf ich ja auf 100 m kaum eine Scheibe von der Größe einer Thüre, weil meine Augen zu schlecht waren. Jetzt schieße ich auf 300 m auf eine Scheibe die Kopf groß ist u. treffe mit jedem Schuß. Auf Schießen wird der Hauptwert gelegt. Da kann einer im Exerzieren bummlig sein, wenn er nur gut schießt. Und wir haben aber auch Schützen, die Unglaubliches zu wege bringen. Z.B. schießen die Rekruten der 1. Compagnie (unsere) wie die Wilddiebe. Da haben wir Einjährige einen schweren Stand.
Nun zum musikalischen Teil.
Daß sich die Berliner Presse anläßlich der Aufführung meiner Suite [op. 16] so ganz u. gar von ihrer bekannten Seite gezeigt hat – ist ja für mich ganz wurscht. Auf die Urteile dieser Herren kommt im Grunde gar nichts drauf an; ich habe aber Kritiken hier, auf Grund deren man eigentlich gerichtlich vorgehen könnte; denn selbst vor den gemeinsten Schmähungen sind die Herren nicht zurückgeschreckt. Einer schreibt, ich wäre der Socialdemokrat unter den jetzigen Komponisten; denn was ich wollte, wäre nur der Umsturz aller musikalischen Verhältnisse. Gott behüte uns, so schließt er, – daß diese extrem rote Richtung jemals zu Worte kommt.
Wie unendlich komisch u. zu gleicher Zeit auch traurig solche unglaublich dumme Ergüsse stimmen müßen, kannst Dir wohl denken. Ich, der glühendste Verehrer J.S. Bach’s, Beethoven’s u. Brahms’ sollte also den Umsturz predigen. Was ich will, ist ja doch nur eine Weiterbildung dieses Styl’s. Und da kommt dann so ein Kerl u. unterschiebt einem solche Motive. Es ist zum kranklachen! Übrigens verfehlen gerade diese Herren durch solche Schimpfereien ihr Ziel durchaus; wäre die Suite als eine Mittelware hingestellt, so hätte kein Hahn danach gekräht; gerade aber deshalb weil sie sich in ohnmächtiger Wut so krümmen u. so geifern, wird das Interesse erst recht wach erhalten. Prost, Mahlzeit Ihr hochweisen Herren! Ihr geistigen Schwachköpfe, die ihr nur immer am Äußerlichen hängen müßt, dagegen unfähig seit [= seid,] die gigantische Kühnheit eines Bach zu verstehen. Sogar im Namen Bach’s haben Protest eingelegt gegen die Widmung der Suite! Meine Antwort besteht in einer Orgelcomposition größeren Styl’s mit der Widmung: Zum 2. Male den Manen J.S. Bachs! Mir haben diese Begeiferungen unendlichen Spaß gemacht u. bin ich den Herren wegen ihrer unfreiwilligen Komik noch Dank schuldig.
Du hast ja nächstens Geburtstag; gratuliere dazu bestens.
Mit herzlichen Grüßen an Dich
und die Deinen
Dein
Max Reger
Sorge für junge Soldaten; das ist Deine Pflicht als Bürger!
[Über Kopf über dem Text der ersten Briefseite:] Wohlriechend!
Object reference
Max Reger to Adalbert Lindner, Wiesbaden, 11th April 1897, in: Reger-Werkausgabe, www.reger-werkausgabe.de/mri_postObj_01007907.html, last check: 22nd November 2024.
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