Zur Bedeutung des Chorals »O Haupt voll Blut und Wunden« für Reger
Alexander Becker
1. Melodie
Hans Leo Haßler (1564–1612). Erschienen in: Lustgarten Neuer Teutscher Gesäng […], Nürnberg 1601 (als Diskantstimme seines fünfstimmigen Satzes zum Lied »Mein Gmüth ist mir verwirret durch eine Jungfrau zart«); geistlich verbunden mit dem Sterbelied »Herzlich tut mich verlangen« von Christoph Knoll, gedruckt mit diesem Text in Harmoniae sacreae […] Görlitz 1613 (DKL 161322).
2. Text
Paul Gerhardt (1607–1676), nach Vorlage von Arnulf von Löwen (1200–1250) (»Salve caput cruentatum«). Erschienen in: Johann Crüger, Praxis pietatis melica, Frankfurt/Main 1656, S. 340f. (DKL 165606) (Überschrift: »An das leydende Angesicht Jesu Christi«).
Der Choral »O Haupt voll Blut und Wunden« entstand als Nachdichtung der ursprünglich Bernhard von Clairvaux zugeschriebenen Passionssalven Arnulf von Löwens durch Paul Gerhardt. Möglicherweise hatte Gerhardt dabei schon die von Hans Leo Haßler stammende Melodie im Blick, die – als weltliches Liebeslied komponiert – zu diesem Zeitpunkt bereits durch Christoph Knoll zum Sterbelied »Herzlich tut mich verlangen« umgedeutet war. Dieser Choral klingt in der neunten Strophe (»Wenn ich einmal soll scheiden«) auch textlich an, die mit der abschließenden zehnten ebenfalls als Sterbelied verwendet wird.
Eine besondere musikgeschichtliche Stellung kommt dem Choral auch durch die mehrfache Verwendung in Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion zu.
Die sieben Gedichte Arnulfs suchen in der Anrufung der geschundenen Gliedmaße und im Mitleiden die mystische Verschmelzung mit dem leidenden Christus. Die Rückbindung an diese spätmittelalterliche Frömmigkeitskultur und an ein Passionsverständnis, das keineswegs lutherisch ist, mag die Rezeption des Chorals auch im katholischen Bereich begünstigt haben. (Franz Liszt etwa verwendet ihn in den 1870er-Jahren in seiner Via crucis.) In dem 1876 erschienenen Gesangbuch Cäcilia, das Reger als Jugendlicher besaß, ist »O Haupt voll Blut und Wunden« enthalten – jedoch auf fünf Strophen verkürzt, die wesentlich aus katholischer Perspektive um- bzw. neugedichtet sind.
3. Verwendung bei Reger
Choräle stellten für Reger zeitlebens eine wichtige Inspirationsquelle dar (vgl. Choräle in Regers Orgelwerken). Die prominenteste Stellung räumte er dabei »O Haupt voll Blut und Wunden« ein – auch wenn die Bemerkung: »Haben Sie noch nicht bemerkt, wie durch alle meine Sachen der Choral hindurchklingt: „Wenn ich einmal soll scheiden?“«,1 keineswegs wörtlich zu verstehen ist. Bemerkenswert ist, dass Reger hier den Choral mit seiner neunten Strophe benennt – ohnehin die »eindrucksvollste und bekannteste Strophe des Liedes«2. Denn in den beiden Schlussstrophen wendet sich die Betrachtung von der Passion Christi auf dessen Teilhabe am Leiden und Sterben der Menschen und wird der Passions- so zum Sterbechoral. So setzte ihn auch Johann Sebastian Bach in seiner Matthäuspassion ein – was kaum ohne Einfluss auf Reger geblieben sein kann, wie Susanne Popp feststellt: »Bach lässt Wenn ich einmal soll scheiden unmittelbar dem Verscheiden Jesu folgen und stellt so eine direkte Verbindung zwischen Jesu Tod und dem eigenen Sterben her; ein Gedanke, dem Reger lebenslang musikalische Auslegungen widmete.«3
- Cantus firmus zitiert in Opus 16, II. Satz (1895); Eintrag in Widmungsexemplar: »O Haupt voll Blut und Wunden«
- Cantus firmus in Bearbeitung Bach-B4 Nr. 5: Choralvorspiel »Herzlich thut mich verlangen« BWV 727 für Klavier (1897)
- Cantus firmus zitiert in Opus 19 Nr. 1 (1898)
- Choralvorspiel »Herzlich thut mich verlangen« (»O Haupt voll Blut und Wunden«) op. 67 Nr. 14 (1901/02)
- Choralkantate »O Haupt voll Blut und Wunden« WoO V/4 Nr. 3 (1903)
- Choralvorspiel »O Haupt voll Blut und Wunden« WoO IV/13 (1905)
- Cantus firmus zitiert in Opus 114 (1910)
- Choralvorspiel »O Haupt voll Blut und Wunden« (»Herzlich tut mich verlangen«) op. 135a Nr. 21 (1914)
- Cantus firmus zitiert in Opus 144b (1915)
Die verschiedentlich zu lesende Einschätzung, Reger spreche von der Haßler-Melodie »stets als von dem Choral Wenn ich einmal soll scheiden« (Alfred Dürr, »Zur geistlichen Musik Max Regers« in Religiöse Musik in nicht-liturgischen Werken von Beethoven bis Reger, hrsg. von W. Wiora, G. Massenkeil und K.W. Niemöller, Regensburg 1978, S. 201), trifft auf die Choralvorspiele wie auch mit Blick auf die frühen Beispiele einer Verwendung (vgl. oben Opus 16) nicht ohne Weiteres zu.
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Authors:
Alexander Becker
Date:
30th September 2019
Tags:
Module IModule IIVol. I/2Vol. I/4Vol. II/7
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Citation
Alexander Becker: Zur Bedeutung des Chorals »O Haupt voll Blut und Wunden« für Reger, in: Reger-Werkausgabe, www.reger-werkausgabe.de/rwa_post_00014, version 3.1.0-rc3, 20th December 2024.
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