Weiden, 30th December 1890

Philomena Katharina Reger to August Grau

Object type
Letter
Date
30th December 1890 (source)
Sent location
Weiden
Source location
DE,
Meiningen,
Meininger Museen,
Sammlung Musikgeschichte/Max-Reger-Archiv,
Br 018/5

Recipients

Incipit
Werter Herr Vetter!
Wir haben heute früh Ihr liebes Briefchen erhalten, u. freute es uns recht […]

Regesta
Remarks
Referenced works

Publications

Der junge Reger. Briefe und Dokumente vor 1900, hrsg. von Susanne Popp, Wiesbaden 2000 (= Schriftenreihe des Max-Reger-Instituts, Bd. XV), S. 84–86

1.

Werter Herr Vetter!
Wir haben heute früh Ihr liebes Briefchen erhalten, u. freute es uns recht, daß der Herr Vetter wenigstens einmal im Jahre unser gedenkt! Es freut uns besonders zu vernehmen, daß der werte Herr Vetter gesund ist, u. – daß er noch keine anderen Fesseln angelegt – freut uns auch, wie garstig – aber sonst oder dann hätte Herr Vetter gar keine Zeit mehr, an uns Verlassene in Weiden zu denken! Also ein bischen Egoismus ist erlaubt, nicht!
Wenn man so weit herumreist, könnte man bei gutem Willen schon einen Abstecher n. Weiden herausbringen, bilde ich mir ein; wir hätten mit Ihnen viel zu plaudern gehabt!
Wie es uns geht! Papa ist heute nicht ganz wohl; morgen oder andren Tags klagt Mama, das ist so ziemlich das Signum bei uns; doch läßt es sich nicht ändern.
Von meinen prosaischen Beschäftigungen will ich schweigen; der Hr. Vetter würde es am Ende gar nicht lesen; die Weltschmerzstimmung kommt fast nie mehr zum Vorschein – „ach, wird Hr. Vetter sagen u. weshalb?“ Nun allmählich rückt das Alter nahe, in dem jeder Schwabe u. so doch auch jede Schwäbin vernünftig wird, und ich will ja doch auch keine Ausnahme machen.
Das Jahr 90 raubte mir meine geliebte Schwester Jeanette, u. ich glaube, nächst Hr. Schwager u. Max [Ulrich] wird sie wohl Niemand so viel vermissen.
Schwager Ulrich ist zwar noch ebenso gut wie früher u. schreibt uns oft; dagegen schrieb mir Max schon monatelang keine Zeile, u. weiß auch gar nicht, weshalb er böse ist.
Emma’l ist noch ganz die alte; sehr groß, doch gesund u. ganz Kind noch; sie hilft der Mama im Häuslichen, hat einige Stunden bei Papa u. Hr. Rubenbauer, ohne übrigens besonders gelehrt zu werden. Dazu hat sie weder Beruf noch Neigung. Echt religiös, doch nicht scheinheilig, was ich schon nicht dulden würde; wir werden sie wohl wenigstens kurze Zeit fortgeben müssen, (doch ja in kein Institut) doch wann u. wohin, konnten uns noch nicht entschließen.
Lebte meine liebe Schwester noch, so würde sie wahrscheinlich auf einige Wochen oder Monate nach Wien gekommen sein.
Und nun viel vom Maxl. Da werde ich aber so bald nicht fertig. Er kam zu Ostern nach Sondershausen, u. als Hr. Dr. Riemann mit 1tem September nach Wiesbaden übersiedelte, folgte er diesem dorthin. Hr. Dr. Riemann hat große Hoffnungen für Max, u. Max ist von ihm u. Frau Dr. wie ein Sohn gehalten, in jeder Beziehung – er wohnt im nächsten Hause, muß Mittag u. Abends dort speisen, kurz ist fast seine freie Zeit ganz in der Familie des Hr. Dr. Zu Weihnachten kam er nicht nach Hause; er hielt es bei Hr. Dr. Dieser beschenkte ihn wieder mit den vollständigen Partituren v. 6 Sinfonien v. Beethoven f. 4 H. Max kann uns nie genug erzählen von der großen Güte des Herrn u. Frau Dr.’s gegen ihn.
Sie heißen sich seine Pflegeeltern, u. Max verehrt beide auch mit größter Begeisterung. Ich weiß nicht, ob Ihnen der Name Dr. Riemann bekannt ist. Er ist der erste Theoretiker in der Musik, hat aber gerade dadurch u. durch seine neue Phrasierung der meisten klassischen Werke auch viele, viele Feinde, besonders auch unter den Verlegern, die die alten Sachen natürlich nicht mehr so gut losbringen u. Riemann den Kampf bis auf’s Messer erklärt haben. Auch Schwager Ulrich ist gegen Hr. Dr. voll Mißtrauen u. gar nicht einverstanden, daß Max bei ihm lernt. Max wäre jedoch ganz außer sich, wollte man ihn von seinem verehrten Lehrer trennen! Sie können aus diesem leicht erraten, daß es schon manche Dissidien deshalb gab.
Schwager Ulrich wollte haben, daß Max das Lehrerseminar absolviere, um auf alle Fälle gesichert zu sein. Lehrer wäre Max aber unter gar keinen Verhältnissen geworden, u. eine Existenz, wie er dort gehabt hätte, wird er sich auf alle Fälle erringen, das schrieb uns Hr. Dr. Riemann schon oft. Dann würde Ulrich München vorgezogen haben, da er eben gegen Riemann eingenommen ist. Wir hätten auch nichts gegen München gehabt, allein Hr. Dr. hat sich vom Anfange an so um Max angenommen, dieser aber nur zu Riemann wollen, daß wir nicht dagegen aufkommen. In München hätte sich Max wohl nicht glücklich gefühlt, sie sind dort so einseitig in der Musik u. – sagen wir es gleich – so voll Neid, daß sie z.B. Brahms gar nicht gelten lassen. So schrieb erst vor 8 Tagen der erste Kritiker von München Th. Göring, „wie soll da Liebe u. Verständnis bei der Jugend (bei solchem Einfluß) geweckt werden für die Werke des strengen, aber großen Brahms.“
Es wäre uns sehr angenehm, könnten Sie Hr. Vetter, uns nur weniges mittheilen, wie in Wien u. in maßgebenden Kreisen über Hr. Dr. Riemann gedacht wird. Weiß ich ja, daß Sie sich für Musik u. auch für Max interessieren u. wir wären Ihnen sehr dankbar für jede Auskunft. Uns gegenüber hat Hr. Dr. Riemann stets mit größter Herzensgüte, mit wahrhaft väterlicher Sorge für Max gehandelt; aber doch leugne ich nicht, daß Hr. Schwager’s fortgesetztes Mißtrauen mich hie u. da zweifeln machte, u. es ist dieses gar nicht schön Hr. Dr.’s Hochherzigkeit gegenüber.
Max gibt in Wiesbaden als der fortgeschrittenste Schüler bereits Klavierunterricht im Conservatorium, wodurch er honorarfrei ist, hat auch Correktur in Harmonielehre übernommen, u. vom neuen Jahr an soll er auch Orgelstunden geben. Hr. Dr. meint aber, daß Composition das Hauptfach sei für Max u. haben selbe ganz sein Lob. Uns gefallen besonders seine Lieder [aus WoO VII/1-13], leider haben hier aber nur 2 oder 3, ich bin aber so frei, Ihnen ein kleines Liedchen mit beizulegen. Meist wählt sich Max Texte sehr ernsten, fast schwermütigen Inhalts. Seine erste Anstellung soll er, bald er fertig ist, wahrscheinlich in Wiesbaden erhalten.
Seien Sie nicht böse, daß ich Sie so lange aufhalte, u. wünschen Sie sich nicht so bald wieder ein Briefchen von mir.
Will sehen, ob Herr Vetter so freundlich ist, uns bald zu antworten, was Sie Alles zu Vorherigem sagen! – Nun noch von uns Allen die besten Wünsche zum Jahreswechsel!

Mit herzlichen Grüßen von meinem Manne
Emi u. mir, bin ich
Ihre
aufrichtige Base
Mina Reger. Weiden 30 | 12 90.

Object reference

Philomena Katharina Reger to August Grau, Weiden, 30th December 1890, in: Reger-Werkausgabe, www.reger-werkausgabe.de/mri_postObj_01001020.html, last check: 22nd November 2024.

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