(10) Penig (Sachsen), 20th November 1944
Karl Straube to Hans Klotz
Sehr verehrter, lieber Herr Doktor Klotz!
Verzeihen Sie, wenn ich so lange geschwiegen […]
Karl Straube, Briefe eines Thomaskantors, hrsg. von Wilibald Gurlitt und Hans-Olaf Hudemann, Stuttgart 1952, S. 236f.
1.
Penig (Sachsen)
20. 11. 1944
Sehr verehrter, lieber Herr Doktor Klotz!
[…] Die Frage Bach und die grosse Form der Choralbearbeitung sehen Sie nicht ganz richtig. Grosse Form scheint mir die sogenannte „Orgelmesse“ zu sein, da es doch ein zyklisch gedachtes Werk ist. Ferner haben Sie nicht an die Choralkantaten gedacht. Das sind wahrhaft grosse Choralbearbeitungen! Für „Ein feste Burg“, „Wachet auf ruft uns die Stimme“, „Wie schön leucht’t uns der Morgenstern“, „Liebster Gott, wann werd ich sterben“, „Christ lag in Todesbanden“, „Nimm von uns Herr, du treuer Gott“, „Was Gott tut, das ist wohlgetan“ (Dritte Bearbeitung), „Schmücke dich, o liebe Seele“ und viele andere gebe ich alle Choralphantasien von Max Reger und das gesamte Orgel-Oeuvre von César Franck hin. – Wir müssen uns darüber klar sein, das seelische Empfindungsleben […] ist im Aufbau der ganzen Persönlichkeit wesentlich stärker entwickelt, als seine Geistigkeit. Er wird von den jüngeren Menschen geliebt um seiner Gefühlskraft willen, wie Jean Paul, der ältere Mensch braucht ausser Seele noch die Geistigkeit, die alle seelische Bewegtheit durchleuchtet und damit auf eine höhere Stufe der Erkenntnis erhebt, wie Johann Wolfgang Goethe. Das zeichnet die Grossen der Weltliteratur und ebenso die Grossen der Musik Bach, Händel, Gluck, Haydn, Mozart, Beethoven aus.
Die bedeutendsten der Choralfantasien von Max Reger sind op. 27 [„Ein’ feste Burg ist unser Gott“], op. 52 Nr. 2 [„Wachet auf, ruft uns die Stimme!“] und op. 52 Nr. 3 [„Halleluja! Gott zu loben bleibe meine Seelenfreud’!“]. In op. 30 [„Freu dich sehr, o meine Seele!“], op. 40 Nr. 2, „Straf mich nicht in deinem Zorn“, und op. 52 Nr. 1 [„Alle Menschen müssen sterben“] ist die seelische Erregung sehr stark, und es kommt zu überwältigenden Phantasieausbrüchen, aber ,sub specie aeternitatis‘ ist die geistige Welt dieser Choräle nicht ausgedeutet. Der Komponist ging beim Schaffen unter in einer gewaltigen Gefühlswelle der eigenen Subjectivität.
Op. 27 ist ein großer Wurf. Bewundernswert der sichere Instinkt, mit dem die gewaltige Melodie des Reformators in breiten Flächen in einer Art musikalischer Schwarz-Weiss-Kunst interpretiert wird und die Sensibilität des eigenen Empfindens immer beherrscht bleibt.
„Wachet auf!“ [op. 52 Nr. 2] ist weitaus die reichste der Choralphantasien, leider im ersten Vers formal etwas überladen und deshalb für den Zuhörer nicht leicht erfassbar. Es ist Programm-Musik, worauf Reger immer wieder hingewiesen hat, mit innerer Befriedigung, dass er auch darin mit Richard Strauß rivalisieren könnte.
„Halleluja! Gott zu loben“ [op. 52 Nr. 3] ist formal angesehen die Krönung seines Schaffens in diesem Kunstgebiet. Mein Amtsvorgänger im Kantorat, Prof. Dr. Gustav Schreck, war ein grosser Bewunderer dieses Stückes. Jeder Zuhörer fühlt den Bau des Ganzen und die Folgerichtigkeit im dynamischen und agogischen Wechsel der einzelnen Variationen, auch wenn er die Textvorlage im Einzelnen nicht kennt. „Halleluja! Gott zu loben“ genügt als Wegweiser durch diese Tonwelt. Was bei „Wachet auf!“ nicht gesagt werden kann.
„Wie schön leucht’t uns der Morgenstern“ [op. 40 Nr. 1] ist nicht ganz geglückt. Der Einschub der melismatischen Variation, den ich veranlasst habe, ist mit dem ihm Vorhergehenden und Nachfolgenden nicht zu einer organischen Einheit geworden. Wäre aber die ursprüngliche Form – Choral im Pedal mit Continuofüllungen im Manual geblieben, so würde die ganze Folge der Variationen vom Eintritt des Chorals bis zum Beginn der Fuge ziemlich monoton gewirkt haben. Dieses Stück ist geschrieben worden, um Heinrich Reimanns Phantasie über den gleichen Choral an die Wand zu drücken. Max war böse mit Heinrich, dieser hatte ihm sein erstes Wohlwollen gekündigt und behandelte ihn unfreundlich, liess alle Briefe unbeantwortet, was dem Jüngeren wehe tat und von ihm mit Groll erwidert wurde. Weder musikalisch, noch religiös ist die Phantasie eine Einheit geworden, was verursacht wurde durch die Tatsachen der Entstehung. Genialisch in einzelnen Zügen, wie das oft bei Max Reger ist, aber nicht von einer solchen Geschlossenheit wie „Wachet auf“! Diese Jenseits-Dichtung ist die grossartigste Leistung und wenn sie mit der Intensität jugendlicher Wärme und in sich sicherer Gestaltungskraft wiedergegeben wird, so übt sie auf die bereiten Herzen der Zuhörer einen großen Zauber aus.
„Halleluja! Gott zu loben“ ist die letzte der Choralphantasien, und Reger hat klug getan, die Pflege dieser Form aufzugeben. Über op. 52 Nr. 3 liegt ein Hauch von Routine und Technik. In der Choralbearbeitung sind die Choralkantaten: „O Haupt voll Blut und Wunden“ und „Meinen Jesum laß ich nicht“ [WoO V/4 Nr. 3 und Nr. 4] wohl das Schönste, was er geschaffen hat. Die Schlichtheit der Form und der Mittel, dazu die reiche seelische Welt in diesen Stücken machen sie zu Meisterwerken von letzter Vollendung.
Worauf ich in diesen langen Ausführungen hinaus will, ist der Hinweis darauf, wie die geschickte Ordnung Einleitung, Variationen und Fuge die grosse Gefahr der Schablone in sich trägt. Wie man über diese Klippe hinwegkommt, darüber müssten Sie nachdenken, um damit zu einer neuen Formgebung zu gelangen.
[…]
Mit allen guten Wünschen für Ihre ganze Zukunft
herzlich und treulich der Ihre!
Karl Straube
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Karl Straube to Hans Klotz, (10) Penig (Sachsen), 20th November 1944, in: Reger-Werkausgabe, www.reger-werkausgabe.de/mri_postObj_01013507.html, last check: 22nd November 2024.
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