L. Rafael
Lyricist
- Lyricist
- –
1.
1.1.
Hedwig Bracht1 wurde am 2. Juli 1844 als eines von sieben Kindern des Gutspächters Hermann Bracht und dessen Ehefrau Elisabeth auf Gut Henrichenburg (heute Stadtteil von Castrop-Rauxel) geboren. Die unbeschwerte Kindheit auf dem Gut, in der Musik und Literatur eine große Rolle spielten, sollte als Sehnsuchtsort später ihre Dichtungen prägen. Nach dem frühen Tod des Vaters 1856 musste die Pacht aufgegeben werden und die große Familie ins nahegelegene Recklinghausen umziehen. Hedwig besuchte nach der Volksschule ein Jahr die Ursulinnen-Klosterschule im belgisch-limburgischen Maaseik, in der auch Wert auf musikalische Förderung gelegt wurde. In der Folge erhielt sie Gesangsunterricht beim Direktor des Recklinghausener Musikvereins, mit dem sie im Dezember 1861 unter anderem mit einer Arie aus Felix Mendelssohn Bartholdys Opernfragment Loreley op. 98 debütierte. 1864 heiratete sie den vermögenden Münsteraner Kaufmann Wilhelm Kiesekamp (1836–1914), Teilhaber der Mühlenwerke F. Kiesekamp, später Kommerzienrat und Präsident der Industrie- und Handelskammer im Regierungsbezirk Münster. Ab 1865 übernahm Otto Julius Grimm, Direktor des Musikvereins in Münster, die sängerische Ausbildung von Hedwig Kiesekamp und setzte sie als seine “Meisterschülerin”2 ab 1868 in den Konzerten des Vereins auch als Solistin ein. Zudem begleitete sie Richard Barth, den Konzertmeister des Vereins, bei privaten Musikstunden am Klavier. Die Bekanntschaft mit Grimm ermöglichte der Sängerin zahlreiche Kontakte zu Persönlichkeiten des Musiklebens, darunter zu Robert und Clara Schumann, Joseph und Amalie Joachim, Julius Stockhausen, Hans von Bülow und Eugen d’Albert. Sie wirkte auch solistisch bei den Münsteraner Gastauftritten von 1876 und 1882 mit, die der mit Grimm befreundete Johannes Brahms als Pianist und Dirigent des Musikverein-Orchesters hatte.3 Kiesekamp erhielt auch überregionale Engagements, darunter in Essen sowie in Düsseldorf (Tonhalle), unter anderem auf Einladung von Brahms. Im Jahr 1898 trat Kieskamp als Solistin in Schumanns Oratorium Das Paradies und die Peri op. 50 letztmalig öffentlich auf.
Angeregt durch die Freundschaft mit dem freien Journalisten und Schriftsteller Levin Schücking und seiner Tochter Theophanie, die sie im Kreis um Otto Julius Grimm kennen gelernt hatte, begann sich Kiesekamp ab den 1870er Jahren auch literarischen Arbeiten zu widmen. 1874 erschien als ihr Erstling ein Märchenschatz, der zunächst im Privatdruck herausgegeben wurde.Nur ein Jahr später kam ein Neuer Märchenschatz für liebe Kinder heraus (Verlag Bagel in Mülheim/Ruhr), der 1880 auch eine zweite Auflage erlebte. Ferner konnte sie erste lyrische Versuche in der Zeitschrift Deutsches Dichterheim und in den Monats-Berichten [später: Monatsberichten] der Breslauer Dichterschule unterbringen, in denen später unter anderem Frühwerke von Rainer Maria Rilke, Stefan Zweig und Richard Dehmel erschienen.4 Märchenbücher, in denen sie auch ihre Kindheitserzählungen wieder aufleben ließ, sowie lyrische Werke blieben auch im Folgenden Schwerpunkte in Kiesekamps Schaffen. Im ersteren Bereich entstanden die Sammlungen Am Kamine (Münster 1878), Wie man im Walde singt und was die Vögel sich erzählen (Paderborn 1884) Frischer Märchenstrauss für liebe Kinder (Mülheim [um 1886]), Was der Sturm sang (Berlin 1887), Winterträume (Dresden 1892), Grossmutter erzählt! (Münster 1896) und Der goldene Garten (Münster 1911); ihr lyrisches Schaffen umfasst sieben Bände: Gedichte (Leipzig 1888), Neue Gedichte (ebda., 1894), Ebbe und Flut (ebda., 1896), Abendgluten (ebda., 1901), Tiefen der Sehnsucht (ebda., 1906), die Kindergedicht-Sammlung Goldgretels Weihnachtsbuch (Münster 1910) und die Kriegsgedichte Im Zeichen des Schwertes (Mönchengladbach 1915). Mit ihrem Monodrama Judith gewann sie bei den Blumenspielen in Köln-Gürzenich, einem Gedichtwettbewerb, die Goldene Nelke und setzte sich dabei gegen ca. 700 dichtende Mitstreiterinnen und Mitstreiter durch.5
In den späten 1890er Jahren schrieb Kiesekamp zudem einige Theaterstücke, vornehmlich Lustspiele, sowie das Familiendrama Heinrich (Leipzig 1898). Nach 1900 trat sie, angefangen mit dem Band Junge Herzen (Stuttgart 1900), insbesondere mit Erzählungen an die Öffentlichkeit, die oftmals die ländlichen Gegenden Westfalens in den Mittelpunkt rücken. Zu nennen sind unter anderem Schultsch Ebbinghaus und ihre Einziger und andere Geschichten (Kevelaer 1907), Der Spökenkieker und andere westfälische Geschichten (Essen 1909), Auf roter Erde. Geschichten aus meiner Heimat (Münster 1914) sowie Traum und Leben (Münster 1919). Überdies veröffentlichte sie den zweiteiligen Roman Kämpfende Gewalten (Kevelaer 1912). Ein Kuriosum ist der “Heiratratgeber”6 Des Mädchens Wahl (Leipzig 1910).
Die Villa Kiesekamp in der Fürstenstraße 1 (ab 1904 Hüfferstraße 17), die 1882 bezugsfertig war, entwickelte sich zu einer zentralen kulturellen Begegnungsstätte in Münster. Kapazitäten verschiedener Disziplinen, darunter der Archäologe Arthur Milchhoefer, der Chemiker Wilhelm Hittorf und der Sänger und Schauspieler Ludwig Wüllner, trafen sich dort zu sonntäglichen Theater- und Musiziernachmittagen. Der Biograph Hartmut Dietz schreibt: “Aus den Lesungen mit verteilten Rollen entwickelten sich regelrechte Theateraufführungen, in denen die Mitwirkenden in entsprechenden Kostümen auftraten. […] Die weiträumigen Korridore und Treppenanlagen des Hauses, worauf zahlreiche Zimmertüren mündeten, bildeten eine musterhafte Bühne, auf der auch größere Szenen gespielt werden konnten. Die Aufführungen blieben stets einmalig und waren ein großes gesellschaftliches Ereignis, das weit über Münster hinaus Widerklang fand.”8
Kiesekamp schuf sich ein weit verzweigtes kulturelles Netzwerk, das sie auch zur Verbreitung ihrer literarischen Werke einsetze. Ihren ersten Gedichtband von 1888 sandte sie an Felix Dahn, der dem Buch ein kurzes gereimtes Vorwort als Empfehlung voranstellte9 und auch eine begeisterte Rezension schrieb. Ebbe und Flut widmete sie Johannes Brahms, das Drama Heinrich und das Lustspiel Der Prinz kommt dem »Theater-Herzog« Georg II. von Sachsen-Meiningen. Eine Freundschaft verband Kiesekamp mit dem Lyriker Detlev von Liliencron, mit dem sie bis zu dessen Tod 1909 in regem brieflichen Austausch stand.10 Liliencron wohnte bei Lesereisen oftmals in der Villa Kiesekamp und erfuhr von der Freundin auch mehrfach finanzielle Unterstützung.
Als 1905 in Münster eine Literarische Gesellschaft gegründet wurde, erwies sich Kiesekamp als eine der treibenden Kräfte. Sie organisierte u.a. zur Eröffnung eine Lesung mit Liliencron und brachte sich auch in den Folgejahren organisatorisch sowie mit eigenen Werken ein.
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs am 1. August 1914 beeinflusste Kiesekamps künstlerisches Schaffen. Sie verfasste eine große Reihe von Kriegsgedichten, in denen sie ihren Patriotismus und ihre Kaiserverehrung zum Ausdruck brachte. Die Gedichtsammlung Im Zeichen des Schwertes, die Szenen aus den Karpaten, Galizien und den masurischen Seen enthält, ist mit bangen Gedanken an ihre Söhne Wilhelm und Hermann verbunden, die an der Ostfront kämpften.11 In den Erzählungen der Sammlungen Traum und Leben und Was mir der Krieg erzählte (1915 bzw. 1916) besitzt das Eiserne Kreuz als Symbol der Zeit eine fast leitmotivische Bedeutung.12
Hedwig Kiesekamp starb am 2. März 1919 in Münster. Im April veranstaltete die Literarische Gesellschaft einen Rezitations- und Liederabend zum Gedächtnis Kiesekamps, der an drei aufeinanderfolgenden Tagen gegeben wurde. Neben der Lesung des Monodramas Judith und einiger Gedichte standen auch Liedvertonungen von Texten Kiesekamps auf dem Programm: Nach Beiträgen von Wilhelm Mauke, Carl Somborn und Wilhelm Kiesekamp (jun.) endete der Abend mit Fünf Schlichten Weisen von Max Reger.13
1.1.1. Pseudonyme
Helene Kiesekamp verwendete für ihr literarisches Schaffen nachweislich zwei Pseudonyme. Frühere Veröffentlichungen wie Neuer Märchenschatz für liebe Kinder (1875) oder der Band Am Gardasee. Erzählungen, Märchen und Skizzen (1889) erschienen unter dem Namen Helene Kornelia. Etwa um 1890 führte sie dann das Pseudonym »L. Rafael« ein, unter dem dann das Gros ihrer Werke, darunter die von Reger genutzten Gedichtbände, publiziert wurde.14 Jedoch veröffentlichte Kiesekamp bisweilen auch unter eigenem Namen, so die Märchenbücher Am Kamine (1878), Wie man im Walde singt und was die Vögel sich erzählen (1884) und Grossmutter erzählt! (1896).
Im 1898 erschienenen Lexikon deutscher Frauen der Feder sind beide Pseudonyme als Hedwig Kiesekamp zugehörig bereits aufgelöst.15 In den 1909 publizierten Sammlungen Der Spökenkieker und andere westfälische Geschichten und der Goldgretels Weihnachtsbuch findet sich im Titel die erläuternde Angabe “L. Rafael (H. Kiesekamp)”, bei Veröffentlichungen ab ca. 1914 steht der Klarname der Autorin dann an erster Stelle und das Pseudonym nurmehr in Klammern.16
Reger verwendete in den Titelzeilen seiner Vertonungen von Kiesekamps Lyrik ausschließlich die Angabe »L. Rafael«.17. Dies gilt auch für die drei Lieder aus dem 1912 komponierten letzten Band der Schlichten Weisen op. 76 Nr. 53, 54 und 57, für die er Goldgretels Weihnachtsbuch als Textvorlage nutzte, in dem Kiesekamps Name bereits im Titel erscheint. Wohl erstmals im “Alphabetischen Register der Dichter sämtlicher Gesangswerke” innerhalb des Reger-Katalogs von N. Simrock, der 1917, ein Jahr nach dem Tod des Komponisten, erschien, taucht das ausgeschriebene Pseudodynm “Rafael, Ludwig” auf.18 Diese männliche Form des Pseudonyms, die Kiesekamp selbst zumindest für ihre Bücher nie verwendet hat, setzte sich von nun in der Reger-Forschung durch. Die Angabe blieb in der zweiten Auflage des Katalogs bestehen19 und bürgerte sich in der Folge auch auf Programmzetteln ein, bei denen die Liedtexte mit abgedruckt wurden.20 Fritz Stein verwendete sie im Register seines 1953 publizierten Thematisches Verzeichnisses der im Druck erschienenen Werke von Max Reger21 und sie wurde 2011 auch in das Reger-Werkverzeichnis übernommen.
Obgleich die vermeintliche Präzisierung als männliches Pseudonym Ludwig Rafael also bereits zu Kiesekamps Lebzeiten im Umlauf war, ist anzunehmen, dass sie nicht auf die Autorin zurückgeht, sondern es sich vielmehr um einen Interpretationsfehler handelt, der wahrscheinlich auf Wilhelm Altmann zurückgeht.22
1.2. As lyricist
Vertonungen
Neben den Liedern von Reger gibt es nur sehr wenige Vertonungen von Kiesekamps Texten, darunter sind:
Parallelvertonungen zu Reger
- Franz Philipp: Kindergebet, Nr. 5 aus Fünf Lieder op. 7 (1919)
Weitere Vertonungen
• F. Hemme: In der Sommernacht und Seliges Verwirren, Nr. 2 und 4 aus Vier Lieder (1895)
• Otto Julius Grimm: Gefangen, Nr. 4 aus Heitere Lieder op. 26 (1898)
• Wilhelm Kiesekamp (jun.): Das Blümlein in meinem Garten, Darf ich bei dir nicht liegen, Dort unter der alten Linde, Siciliane (ca. 1919)
1. Reger-Bezug
Max Reger vertonte zwischen 1905 und 1912 insgesamt neun Gedichte Hedwig Kiesekamps, die er insbesondere für die an Kinder gerichteten Abteilungen der Schlichten Weisen verwendete. Bei seinen Textrecherchen wurde er dabei zunächst in den Lyrik-Bänden Neue Gedichte und Abendgluten fündig. Dass er um 1905 schon wusste, welche Autorin sich hinter dem Pseudonym »L. Rafael« verbarg, ist anzunehmen, zumal dies bereits öffentlich kommuniziert worden war (siehe oben). Im Oktober 1910 erhielt Reger dann von Kiesekamp ein Exemplar der kurz vorher erschienenen Kindergedicht-Sammlung Goldgretels Weihnachtsbuch, versehen mit der handschriftlichen Widmung “Dem Tondichter Max Reger | in Verehrung u. Dankbarkeit | Die Verfasserin”.1 Darin sind unter anderem die dann in Band VI der Schlichten Weisen verwendeten Texte vom Komponisten zur Vertonung angezeichnet.
Im Jahr darauf kam es zur ersten und einzigen Begegnung von Kiesekamp und Regers anlässlich eines Brahms-Reger-Abends des Münsteraner Musikvereins am 31. März 1911 im Rathaussaal. Unter den Augen der Dichterin dirigierte Reger unter anderem die Hiller-Variationen op. 100 und begleitete die Altistin Anna Erler-Schnaudt bei sechs eigenen Liedern, darunter Des Kindes Gebet op. 76 Nr. 22. Die Autorin schreibt hierzu auf letzten Seite ihrer handschriftlichen Erinnerungen Skizzen aus meinem Leben, die vermutlich aus ihren letzten Lebensjahren stammen: “Den Komponisten Max Reger sprach ich persönlich nur ein Mal in einem Konzert, wo mein von ihm vertontes Gedicht: des Kindes Gebet gesungen wurde. Ich schrieb des Öfteren mit ihm, und mit seiner Frau stehe ich heute noch im Briefwechsel. Er war wohl der weiteste unter den Komponisten der Jetztzeit nach dem Tode Brahms, ungleich anderen die klassischen Lehren nicht verlassend. Mir hat er eben in den verschiedenen Kompositionen meiner Gedichte viel gegeben. Genuß u. Freude!”2
Als die Literarische Gesellschaft nach dem Tode Kiesekamps im April 1919 einen Rezitations- und Liederabend zu deren Gedächtnis veranstaltete, standen zum Ende fünf Schlichte Weisen Regers auf Texte der Dichterin auf dem Programm.3 Die Skizzen aus meinem Leben erwähnte Korrespdondenz Kiesekamps mit Max und Elsa Reger hat sich nicht erhalten.
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L. Rafael, in: Reger-Werkausgabe, www.reger-werkausgabe.de/mri_pers_01858.html, last check: 23rd November 2024.
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