München, 22nd March 1903
Max Reger to Theodor Kroyer
Regensburg,
Staatliche Bibliothek Regensburg,
IP/4Art.714
- Max Reger
Sehr geehrter Herr Dr!
Wenn Sie diesen Brief erhalten, bin ich schon mit dem beiliegenden Text […]
1.
München, Wörthstr. 20I.
22. III. 03.
Sehr geehrter Herr Dr!
Wenn Sie diesen Brief erhalten, bin ich schon mit dem beiligenden Text „Gesang der Verklärten“ beschäftigt, welcher Text mir schon lange, lange im Kopfe spukt! Aber eine mörderliche Angst habe ich, ob es mir gelingt, dem Text das musikalische Gewand zu verleihen, das mir im Geiste als Ideal vorschwebt! O, Sie glauben nicht, wie sehr ich unter meiner unglückseligen Veranlagung, immer u. immer an mir[,] meinen Leistungen selbst zu zweifeln, leide – u. je älter ich werde, desto öfter kommen diese Stunden! Wohl „gebäre“ ich in Anbetracht meiner großen Produktivität für den oberflächlichen Anschein mit großer Leichtigkeit – aber das Gegentheil ist der Fall – selbst das allerkleinste Lied ist für mich geradezu eine Qual – nicht deshalb, weil mir nichts einfiele – nein, deshalb, weil die Zweifel an meiner musikalischen Begabung, überhaupt immer größer werden, und ich immer das Gefühl trage, das Erträumte doch nicht erreichen zu können.
Letzthin war Boehe bei mir, überbrachte mir die Partitur seiner symphonischen Dichtung mit den Worten, daß ich für seine Kunst als Musik als Ausdruck doch kein Verständnis haben könnte, da bei mir bekannterweise Musik doch nur tönende Form ist.
Ja, ja, wenn man nur den „göttlichen Sauhirten“ in Musik setzt,1 dann erst hat man Musik als Ausdruck!
Daß aber gerade die Programmusik nur auf Reflexion beruht, also der seelische Ausdruck kein unmittelbarer, sondern nur „vorgestellter“ sein kann – das scheint den Herren nicht aufzugehen! Aber gut; nur immer zu: wer heutzutage auf dem Gymnasium seinen Homer nicht präpariert hat, der hat das Patent auf Musik als Ausdruck! Übrigens wird Sie es wohl interessieren zu erfahren, daß sowohl Herr Straube wie ich der Ansicht sind, daß die jetzige absolute Vorherrschaft der symphonischen Dichtung in spätestens 20 Jahren zu einem argen Bankerotte führen muß und wird! Nun die Bitte, diesen Brief als durchaus à discretion behandeln zu wollen!
Wie gefällt Ihnen der Text „Gesang der Verklärten“?
Ich werde komponieren (2. Zeile)
nicht staubige, sondern steinige Pfade!
Der Ausdruck „staubig“ erscheint mir nicht glücklich u. auch nicht prägnant genug, während „steinig“ viel mehr – wenigstens nach meiner Ansicht – „treffend“ ist.
Nun die besten Grüße und Empfehlungen von meiner Frau u. mir an Sie, die hochverehrten Ihrigen
Ihr
mit ausgezeichnetster
Hochachtung
ergebenster
Max Reger.
Habe soeben als „Kontrapunktübung“ – denn solche Übungen muß man immer machen – zu den 15 zweistimmigen Inventionen von Bach eine 3. Stimme dazukomponiert! Das Ganze ist eine „Schule des Triospiels“ für die Orgel [RWV Bach-B8] geworden.
2.
Gesang der Verklärten.
(Karl Busse)
Glocken der Heimat trugen uns auf,
Die wir geirrt über staubige Pfade,
Schauernd und läuternd ziehn uns hinauf
Ewig unsagbar Ströme der Gnade.
Irdische Leuchten locken uns nicht,
Was uns auf Erden durchdrang und berührte,
Hallende Chöre gehn wir im Licht
Über Verblühendes selig Geführte.
Fern den Umschatteten drunten im Thal,
Deren sich jeder in Hoffnung getröste,
Schweben wir singend ob Sünden und Qual,
In Unvergänglichkeit selig Erlöste.
Object reference
Max Reger to Theodor Kroyer, München, 22nd March 1903, in: Reger-Werkausgabe, www.reger-werkausgabe.de/mri_postObj_01007171.html, version 3.1.0, 23rd December 2024.
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