Sondershausen, 6th July 1890
Max Reger to Adalbert Lindner
Weiden,
Stadtmuseum Weiden, Max-Reger-Sammlung,
L 5
- Max Reger
Hochgeehrtester Herr Lehrer!
Strafe muß sein. – Sie haben so lange mit Ihrem Briefe gewartet […]
- Sechs Präludien und Fugen WoO III/1
- Streichquartett
Der junge Reger. Briefe und Dokumente vor 1900, hrsg. von Susanne Popp, Wiesbaden 2000 (= Schriftenreihe des Max-Reger-Instituts, Bd. XV), S. 67–70
Max Reger, Briefe eines deutschen Meisters. Ein Lebensbild, hrsg. von Else von Hase-Koehler, Leipzig 1928, S. 18-20 (dort als 6.6.1890)
Adalbert Lindner, Max Reger. Ein Bild seines Jugendlebens und künstlerischen Werdens, Stuttgart 1922, S. 65-66
1.
Sondershausen, den 6. Juli 1890.
Hochgeehrtester Herr Lehrer!
Strafe muß sein. – Sie haben so lange mit Ihrem Briefe gewartet, ich thue auch dasselbe.
Was das Neueste ist (die Übersiedlung nach Wiesbaden) wissen Sie ja. Die Verhältnisse dort werden größer werden als hier. Die Concerte werden auch ganz anders werden. Nun heute in der Generalprobe: „Tassos Triumph v. Liszt, Beethoven-Ouverture von Lassen, Ruy Blas, Ouverture v. Mendelssohn, Meistersingervorspiel v. Wagner u. – 4. Symphonie v Brahms.
Nunja. Das Meistersinger-Vorspiel wurde halt gründlich verjagt. Es heißt „Sehr mäßig!“ als Tempobestimmung. Nun übersah aber der gute Hofkapellmeister Schultze daß es ein 2 zähliger u. nicht 4 zähliger Takt (wie er ihn gab) ist. Fr. Dr. Riemann u ich saßen nebeneinander; wir waren ganz – baff. Sie stieß mich nur immer über das Tempo. Von Agogik, Phrasierung hat man aber keine Spur von einer Idee.
Nun zu Brahms. Ich weiß nur, daß das ein herrliches Werk ist. Natürlich wer in der Musik nur den Ausdruck seiner jeweiligen sentimentalen – (verliebten, wie meine lieben Collegen (die Hamburger)) Stimmung sucht, dem kann echte Kunst eines Bach, Beethoven Brahms nicht gut gefallen! Herb, furchtbar herb, melancholisch – nicht appassionata! ist sie. Nur im 4. Satz (Chaconne) schreibt er vor appassionata[.] Das ist aber auch ein Finale.
Gespielt wurde sie sehr mittelmäßig[.]
Herr Lehrer haben neulich verschiedenes über Klavierspiel etc gefragt. Nun, wie man speziell riemannisch spielt, das kann ich Ihnen im Briefe nicht auseinander setzen; aber, wenn Sie wollen – ich komme ja August nach Weiden. Ich habe jetzt durch Chopin 12 Etüden op 10 u. von op 25 N 1, 3, 4, 7, 9.
Wenn Sie diesen Brief erhalten, dann studiere ich N 2 u. N 1 der 3 Etuden für die Methode v. Moscheles u. Fétis. Ich kann auf diese Weise bis Oktober mit Chopin fertig sein. Mühe kostet es, aber es geht.
Bach Wohltemperiertes schreitet rüstig fort – auch bei H. Dr, der jetzt den 2. Teil phrasiert. Kreisleriana v. Schumann, Berceuse von Chopin, Präludien v Chopin nehme ich auch mit. Orgel bringe ich 2 Bach Bände mit nach Hause. Kontrapunkt habe ich jetzt 4 Aufgaben beim doppelten gemacht u. werde bis August die doppelten in der Oktave durch arbeiten.
Komposition!
O Gott wenn ich daran denke! Zeit – Zeit – Zeit.
Aber warten Sie; ich werde in den Ferien ein Streichquartett schreiben, das [soll] eine Hölle von Kontrapunkt werden. (Finale große Fuge) Ja die Fugenform hat mich ganz gefangen genommen. Ich bin aber auch nebst Herr Dr. der einzige hier, der sich damit beschäftigt. Die anderen haben eben das Gefühl noch nicht hiefür. Die Hamburger (obwohl sie älter sind) befinden sich als Künstler eben auch in einem Stadium „der ersten Liebe“ zur Kunst. Sie wissen ja, wie ich zuerst auch gehörig auf Fuge, Kontrapunkt schimpfte – aber vor 2 Jahren. Nun ja, die Hamburger sagen ja selbst, daß ich das richtige Kunstideal hätte aber, meinen sie, der Reger komponiert nicht, sondern berechnet. Möchte aber schon fragen was geistig bedeutender, was mehr geistigen Gehalt in sich birgt wenn man sehr homophon schreibt oder wenn man sehr poliphon schreibt. Ich glaube übrigens, daß Sie wissen daß bei uns doch nicht alles Berechnung ist! Denn dann wäre es ja Blödsinn, zur Musik zu gehen; ich glaube, Herr Lehrer wissen, daß ich bis jetzt doch nicht alles berechnet habe – ich glaube daß ich vielleicht mehr an Komposition denke als die Hamburger. – Nun kurz u gut, warum die Kerls meine Musik nicht verstehen [gestrichen: „ist der“]: „Das sind alle junge Leute von 15–20 (23) Jahren; es hat so jeder ein interessantes Verhältnis mit irgend einer Schönheit in Hamburg oder hier, was aber bei mir nicht der Fall ist, u. da hoffen die guten Kerls in meiner Musik den Widerhall ihrer Empfindungen verspüren zu müssen, worin sie aber gründlich getäuscht werden. Sie sagen ja Reger schreibt wie wenn er 45 Jahre alt wäre. Ja, aber leidenschaftlich (Fmoll-Fuge & Phantasie NB) können sie doch nicht so sein, das kommt ihnen wild vor. NB das ist wild!
Thema der Fmoll Fuge
Nun ja das Verliebtsein der Hamburger ist ja nichts Unrechtes. H. Dr. & Fr Dr wären gespannt zu wissen, ob ich vielleicht auch – worauf ich dann ganz ruhig u aufrichtig sagte: ¡Ne!¡ Nun er meinte: „Warten Sie nur bis in Wiesbaden, da gibt es schöne & reiche Töchter!“
Das ist doch sehr gut.
Wir sind überhaupt sehr intim mit einander
Fr. Dr weiß z.B. alle die Liaisons der anderen. Das gibt allemal abends, wenn einer den andern tüchtig neckt einen Hauptspaß.
Erstaunt werden Sie mich vielleicht ansehen, wenn Sie mich in Weiden sehen. Ich glaube, daß mich in jeder Weise verändert habe – denn in Weiden muß man zum Philister werden.
Klatsch gibt es natürlich hier auch. Das amüsiert uns aber am meisten. z. B. Sind wir 4 so verrufen. O Gott. Was sagt man nicht Alles. Nun ja, wir sind 4 ganz durchtriebene Kerls u wissen’s so zu machen, daß die Sonderhäuser ganz erstaunt sind.
Das wäre so was für Weiden. Wenn ich an das liebe Nest denke; was habe ich für Dummheiten gemacht.
Es ist ja vorbei u. im übrigen sind unsere Schulsatzungen hier lächerlich. Wir übertreten tagtäglich alle.
Komponiert Hr Klier, er soll’s doch mal zu Dr. Riemann schicken!?–?!!?–?!!
Mit Hr Dr ist sehr gut verkehren. Nur muß man eben die allerfreisten Ansichten in allen Dingen haben, – sonst macht man sich unsterblich lächerlich. Manche/r Weidener der durch seine Weisheit glänzt, würde tüchtig ausgelacht. Ich werde sehen, wie ich mich stelle im August.
Der Duzfreund Riemanns Neßler ist tot. (Er trank ein bischen)
Ich wünschte nur Hr Lehrer wär abends bei Hr Dr. Zuerst hochfeines Abendessen im Speisezimmer u. dann ganz gemütliches Zusammensein im Salon; zuerst Bier u. zuletzt noch so u so viele Flaschen Wein. Dabei wird feste Musik gemacht; Hr Dr. gibt Geschichtchen zu besten, die Hamburger & ich necken uns zum Gaudium H. & Fr Dr tüchtig u. um 11½ > 12 Uhr trollt man dann nach Hause um dann wie ich um 12 Uhr mittags wieder dahin zu gehen. Dabei steht mir seine Bibliothek, seine sämtlichen Musikalien zur Verfügung. Ich kann haben was ich will.
Meine Pflegemama (Fr Dr.) kümmert sich dann ordentlich um meine sonstigen Sachen u. dann geht’s ja. Die Jungens [Robert, Hans und Konrad] sind 3 ganz fidele Burschen nur machens H. Dr zu viel Lärm.
Morgen ist Sonntag. Ich freue mich schon aufs Lohkonzert u. aufs Menu beim Mittagessen. (Ich bin nämlich jetzt ein bischen Feinschmecker geworden) Wahrscheinlich wird H. Dr für uns (Er, Sie u ich) wieder eine Erdbeerbowle brauen, was er famos versteht u. die trinken wir aus, nebst Kaffee & gehen dann ½ 4 Uhr ins Loh, nachdem ich schon um 12 Uhr hingegangen bin u. mit ihm oder ihr vierhändig Klavier gespielt habe.
Es ist sehr schön hier.
Schreiben Sie bald wieder.
Es grüßt
Sie
Ihr
dankbarer
Max Reger
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Max Reger to Adalbert Lindner, Sondershausen, 6th July 1890, in: Reger-Werkausgabe, www.reger-werkausgabe.de/mri_postObj_01007884.html, last check: 21st November 2024.
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