München, 26th December 1902
Max Reger to Theodor Kroyer
Regensburg,
Staatliche Bibliothek Regensburg,
IP/4Art.714
- Max Reger
Sehr geehrter Herr Dr!
Gestatten Sie, dass ich Ihnen, bezugnehmend auf unser […]
- Vier Sonaten op. 42
- Gesang der Verklärten op. 71
Agnes Michalak, Max Reger Charakterstücke für Klavier zu zwei Händen, Karlsbad 2007, S. 262
1.
München, Wörthstr. 20 I.
26. XII. 02.
2.
Sehr geehrter Herr Dr!
Gestatten Sie, dass ich Ihnen, bezugnehmend auf unser gestriges Gespräch, meinen Vertrag mit Lauterbach & Dr. Kuhn in Leipzig „näher auseinandersetze“.
Also die Herren zahlen an mich pro Jahr 4000 M für Vorkaufsrecht – d.h. die wirklichen Honorare für die ja einzelnen Werke müssen noch extra bezahlt werden, so daß ich mich auf so 8000 M pro Jahr bei Lauterbach & Kuhn stehen werde; denn das ist außerdem schon festgestellt, daß die Honorare für die Werke mindestens die Summe von 4000 M pro anno erreichen! Da ich mit Stunden noch 2000 [durchgestrichen: 10 000] M pro Jahr habe, so wären also 10000 M pro Jahr da – aber so glänzend das ja aussieht – so arg ist’s ja doch nicht! Obwohl ich vollständig schuldenfrei bin – hab ich wieder eine Sache „gedeichselt“, die mich elendes Geld kostet! Ich habe [Ludwig] Hess engagiert, der im Februar in Berlin u. Leipzig einen Abend nur Reger singt; dafür bezahle ich ihm pro Abend 300 M; nun kostet jeder Liederabend noch 300 M mindestens – also pro Abend 600 M, = 1200 M. An beiden Abenden rechne ich nicht 6 M Einnahme! Zwar singt Bergen im Februar [recte: März] einen Hugo Wolf-Regerabend in Leipzig, wo ich ebenfalls 150 M Kosten daran trage, dann am 13. Januar (1903) [dreifach unterstrichen:] hier Frau Dessoir 10 Lieder von mir, wo ich ebenfalls 100 M dazulege zu den Kosten – nehmen Sie dazu noch meine Reise nach Leipzig u. Berlin etc., Augsburg 2x (nie Honorar erhaltend) sodaß wohl 2000 M rund draufgehen werden! Erfolg (dieses mißbrauchte Wort) verspreche ich mir von all den Unternehmungen nicht im Geringsten – ich weiß nur zu gut, daß nach der gestrigen Wiederholung des Werkes von Herrn S.[= Max Schillings] für mich bei solchem Publikum nichts, aber auch nichts zu holen ist! Besonders, wenn man bedenkt, wie man in den hiesigen leitenden musikalischen Kreisen gegen mich vorgeht – so bildet mein Quintett op. 64, das Sie ja auch haben, einen ungeheuren Stein des Anstoßes; man schreckt nicht zurück, die Herren, die das Werk nächstens mit mir machen sollen, zu warnen vor dieser musikalischen Ungeheuerlichkeit – Sie können Sich denken, von welcher Seite aus das geschieht! Und so erlebte ich letzthin eine Probe mit meinem Quintett, die so war daß ich mir sehr überlege, ob ich das Werk hier nicht zurückziehe! Mit Hohn, Spott, Ironie („nun klingt’s nur mehr komisch“) beliebten die Herren während der Probe, mir ins Gesicht zu kommen! Wenn man sich doch endlich mal das abgewöhnen würde, mir immer anzudichten, daß ich aus reiner Neuerungssucht an meinen Werken „schnitzte“, um solche „Verrücktheiten“ herauszubekommen. Meine Frau kann Zeuge sein, mit welcher spielenden Leichtigkeit ich diese komplizierten „verrückten“ Bildungen (mit 1 Note für den Takt im Entwurf – alles andere dem Gedächtnisse überlassend) aufs Papier hinwerfe! Dann möchte man doch bedenken, daß ich zu einer Zeit als die Herren noch nicht wußten, ob sie überhaupt Musiker werden sollen, mit 8 Jahren auf der Orgel die sämtlichen Orgelwerke Bach’s, Mendelssohn’s spielte – nicht schlecht –, daß ich, ohne eigentlichen Musikunterricht zu haben, bei meinem Eintritt ins Conservatorium nach Riemann’s Ausspruch sofort in jeder Beziehung der beste Schüler war, im Ganzen 4 Monate bei Riemann Unterricht hatte – sonst bei niemanden – alles, alles verdanke ich Joh. Seb. Bach! Und ehe wir nicht Joh Seb Bach als Haus- und Concertandacht in gründlichster Weise pflegen – eher wird keine Besserung in Bezug auf die zeitgenössische Produktion eintreten – eher wird das Merkmal des Dilettanten, der Oberflächlichkeit aus dem fast gesamten Schaffen unserer Zeit nicht verschwinden! Mit einigen Akkorden, die schön weich u. interessant klingen, ist nichts erreicht!
Von jenem, was ich unter Kunst verstehe, habe ich gestern in den beiden Novitäten nicht einen Hauch verspürt! Zürnen Sie mir ob dieses schroffen Urtheils nicht – allein ich fühl’s, wie ich mit meinen Ansichten von der Weiterentwicklung unserer Künstler immer einsamer werde – nur Sie allein sind es, dem ich das schreibe! Unser musikalisches Rückgrat krankt sehr, – die „Stelzen“ der „Farbe“ täuschen mich nicht über die Krankheit; es ist ein Irrthum, alle Musik nun auf den letzten Akt von Guntram aufbauen zu wollen! „Wagner“ muß überwunden werden – derart, dass wir seine Fortschritte, seine eminenten „Werte“ uns innerlich zu eigen machen, dann aber möglichst weit von ihm weg! Zuerst muss aber J.S. Bach als Fundament da sein! Die höchste Freiheit bekommen wir aus der Wiedergeburt in Bach!
Ich habe Herrn Bauer gebeten, Ihnen zu dem Liederabend Loritz nächsten Sonntag 2 Karten zu senden! Hoffentlich haben Sie dieselben erhalten! Ich bin Ihnen ausnehmend verbunden, wenn Sie Sonntag den Liederabend besuchen u. darüber referieren! Am Dienstag den 30. Dec. [1902] singt Frau Walter-Choinanus in dem Lieder- u. Duettenabend (Damen Stavenhagen, Walter-Choinanus) 2 Lieder von mir [Opus 43 Nr. 3 und 5], die hier noch nie gesungen wurden, die wahrscheinlich auch Ihnen unbekannt sein dürften! Wenn es Ihnen irgend möglich ist, haben Sie bitte die große Güte, auch dieses Konzert zu besuchen; ich wäre Ihnen so herzlichst dankbar dafür!
Seien Sie also so liebenswürdig auch dieses Concert zu besuchen (30. Dec. Dienstag). Viel Dank im Voraus!
Ferner werden Sie morgen zugesandt erhalten mein op 42 4 Sonaten für die Violine allein – die Ihnen wohl ganz unbekannt sein werden; haben Sie bitte die Güte auch dieses opus freundlichst besprechen zu wollen, wofür ich Ihnen sehr verbunden wäre!
Das Gute hat der Kontrakt mit Lauterbach & Kuhn, daß ich nun, losgelöst von der Sorge um den „Groschen“, ganz u. gar nur meinem eigenen Schaffen leben kann; ob ich nun ½ Jahr an einem Werke arbeite, das macht nichts. 4000 : 12 = 333 M sind pünktlichst jeden 1. da u. das reicht zum Leben, nachdem wir sehr einfach leben; dann habe ich mich um 10000 M in die Lebensversicherung aufnehmen lassen, was allerdings 400 M pro Jahr Prämie kostet – aber ich muß, nachdem meine Frau u. ich kein Privatvermögen haben, dafür sorgen, daß meine Frau, wenn mir etwas zustoßen sollte, doch nicht ganz mittellos dasteht.
Meine Frau ist so ganz die richtige Künstlerfrau, die tapfer all die Enttäuschungen mitlebt u. selbst bei den schlechtesten, absprechendsten Kritiken, wie ich sie immer von Berlin erhalte, nicht ängstlich wird; außerdem ist sie ein Engel an Herzensgüte u. für mich in rührender Art besorgt, damit mich des Lebens Unannehmlichkeiten so wenig als möglich treffen! Solch eine Frau sollten auch Sie haben! Das Bewußtsein, eigenes Haus resp. eigenes Heim zu haben, für das man zu sorgen hat, ist unbezahlbar u. lebe ich seit 8 Wochen sozusagen auf.
Einen wundervollen Text habe ich gefunden; hier ist er:
Gesang der Verklärten
Glocken der Heimat trugen uns auf,
Die wir geirrt über steinige Pfade,
Schauernd und läuternd ziehn uns hinauf
Ewig unsagbare Ströme der Gnade.
Irdische Leuchten locken uns nicht,
Was uns auf Erden durchdrang u. berührte,
Hallende Chöre gehn wir im Licht
Ueber Verblühendes selig Geführte.
Fern den Umschatteten drunten im Thal,
Deren sich jeder in Hoffnung getröste,
Schweben wir singend ob Sünden und Qual,
In Unvergänglichkeit selig Erlöste.
Mir gefällt dieser Text sehr u. werde ich ihn in Bälde für 5–6stimmigen Chor mit Orchester und Orgel [Opus 71] componieren; dann kommt der 149. Psalm für Doppelchor, Orchester und Orgel [RWV Anhang B7]!
Meine Symphonie [WoO I/8] habe ich selbst gänzlich verworfen – selbe genügt mir nicht mehr; das Manuskript ruht in meinem Schranke als warnendes Beispiel! ½ Jahr Arbeit ist dadurch für null u. nichtig erklärt. Das schadet nichts.
Nun seien Sie nicht böse, wenn ich Sie so lange aufgehalten habe – bitte sehr, den ganzen Inhalt dieses Briefes à discretion gegen jedermann.
Mit den besten Empfehlungen von meiner Frau und mir an Sie u. die sehr verehrten Ihrigen
Ihr
mit herzlichsten Grüßen
u. ausgezeichnetster
Hochachtung
ergebenster
Max Reger.
Object reference
Max Reger to Theodor Kroyer, München, 26th December 1902, in: Reger-Werkausgabe, www.reger-werkausgabe.de/mri_postObj_01007164.html, last check: 22nd November 2024.
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