Zur Bogensetzung in den Opera 106 und 110 Nr. 1 sowie WoO VI/22

Christopher Grafschmidt

1.

Silbenbögen, die in Vokalmusik bei melismatischer Vertonung zum Einsatz kommen (können), werden von Elaine Gould in ihrem Handbuch des Notensatzes Hals über Kopf so beschrieben: “Ein Bindebogen verbindet mehrere Noten, die auf eine einzelne Silbe zu singen sind. Dadurch wird die Silbenunterlegung im Notentext optisch unterstrichen«.”1 Bei der von ihr präferierten modernen Balkensetzung nach Schlägen sind diese Bögen geradezu eine Notwendigkeit. Bei klassischer Balkensetzung nach Silben, wie sie Reger oft verwendet hat (und die damit auch das Erscheinungsbild der RWA prägt), sind sie im Grunde lediglich bei Melismen, die Notenwerte ohne Balken enthalten, erforderlich.

Bis Letzte Bitte WoO VII/22 (vermutlich Juni/Juli 1899) bzw. Acht ausgewählte Volkslieder WoO VI/11 (vermutlich September/Oktober 1899) versah Reger auch bereits durch Balken kenntlich gemachte Melismen mit Silbenbögen, ab Acht Lieder op. 43 (Oktober/November 1899) bzw. Drei Chöre op. 39 (2. Oktoberhälfte 1899) ließ er bei durchgehender Balkung den Bogen weg, verzichtete also auf die doppelte Kennzeichnung.2

Eine neue Dimension erhielt Regers Vorgehensweise im Sommer 1909, dokumentiert durch die Korrespondenz mit dem Verlag C.F. Peters bezüglich der Bogensetzung im 100. Psalm op. 106. In den bewegteren Abschnitten verzichtete Reger bei der Drucklegung des inzwischen vervollständigten Werks (der 1. Teil war bereits im Frühjahr 1908 entstanden) weitestgehend auf Silbenbögen. Er stehe da “auf Bach’schem Boden! […] Mit Bogen soll eben streng legato gesungen werden, ohne Bogen eben nicht legato, wodurch die schnellen Figuren an Deutlichkeit gewinnen! Das ist die Lösung!”3

In der Motette »Mein Odem ist schwach« op. 110 Nr. 1, entstanden während der finalen Phase der Psalm-Komposition Anfang Juli 1909, rasierte Reger in der Stichvorlage im Allegro-Teil die meisten Bögen. Im Vater unser WoO VI/22, an dem Reger ab September 1909 bis höchstens Frühjahr 1911 arbeitete, weist die nur noch fragmentarisch überlieferte Doxologie (ab Takt 253) vor allem in den bewegteren Passagen ebenfalls kaum Silbenbögen auf. Allerdings fehlt in diesem Teil ohnehin weitestgehend die rote Vortragsschicht. Darüber hinaus hat Reger außer in den genannten Werken diese Unterscheidung nicht mehr getroffen.


1
Behind Bars – The Definitive Guide to Musical Notation, London 2011; deutsche Fassung von Arne Muus und Jens Berger, Leipzig 2014, S. 477.
2
Problematisch wird dadurch die Datierung der Grabgesänge WoO VI/15, lediglich erhalten in einer Abschrift Emma Regers (mit Balken und Bögen), auf das Spätjahr 1901.
3
Brief Regers vom 4. September 1909 an Paul Ollendorff, zitiert nach Peters-Briefe, S. 349f., hier: S. 350. – Eine Aufführung oder gar Bearbeitung Bach’scher Vokalwerke durch Reger in zeitlicher Nähe ist nicht nachgewiesen.
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Authors:
Christopher Grafschmidt

Date:
18th October 2021

Tags:
Module IIVol. II/3Vol. II/9Vol. II/11

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Citation

Christopher Grafschmidt: Zur Bogensetzung in den Opera 106 und 110 Nr. 1 sowie WoO VI/22, in: Reger-Werkausgabe, www.reger-werkausgabe.de/rwa_post_00015, version 3.1.0-rc3, 20th December 2024.

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