Martin Boelitz
Correspondence, Lyricist
1.
1.1.
Martin Boelitz wurde am 10. Mai 1874 als Sohn eines protestantischen Pfarrers in Wesel geboren. Er begann eine berufliche Karriere als Bankangestellter u.a. in Berlin (1897–1899) und im jüdischen Bankhaus S. Japhet & Co. in London (1899–1901). Ab etwa 1893 begann er zudem, Gedichte in Zeitschriften zu veröffentlichen. Er war Lektor der Kölner Kulturzeitschrift Das neue Jahrhundert (1901–1902) und gab ab 1900 gemeinsam mit Max Beyer die Literaturzeitschrift Stimmen der Gegenwart heraus, die nicht zuletzt für Reger zu den “Fundgruben für vertonbare Texte” gehörte.1 Weiters lebte Boelitz in Genf, Düsseldorf und München, wo er dann Reger persönlich kennen lernte.
Ab 1903 leitete er in Nürnberg die von ihm eingeführte Kinder- und Jugendbuchabteilung des englischen Verlags E. Nister bis zu dessen Auflösung 1914. Danach kehrte er mit seiner Familie nach Wesel zurück, übernahm dort im Juli 19152 die Buchhandlung Fincke & Mallincrodt und schrieb für die Weseler Zeitung. Am 5. Dezember 1918 starb Boelitz infolge eines Leberleidens in Wesel.3
Boelitz veröffentlichte die Gedichtbände Aus Traum und Leben (1896), Lieder des Lebens (1900), London. Soziale Gedichte (1901), in dem er “in heiligem Haß und tiefer Erschütterung” (Vorwort) die Verhältnisse in den Armenvierteln der englischen Hauptstadt anprangerte, sowie Frohe Ernte (1905). Nach 1905 kam sein literarisches Wirken, das bis dato fast 300 Gedichte hervorgebracht hatte, fast vollständig zum Erliegen.
Boelitz’ Lyrik wurde um 1900 enthusiastisch rezensiert, u.a. von Stefan Zweig und (zunächst) Rainer Maria Rilke4, geriet jedoch noch zu seinen Lebzeiten in Vergessenheit.
1907 äußerte sich Boelitz anlässlich einer Umfrage der Literarhistorischen Gesellschaft Bonn über “Absichten und Ziele, über Problemstellung oder Formgebung” in seinem Schaffen:5
Ich könnte die Beantwortung der an mich gerichteten Fragen in einen sehr einfachen Satz zusammendrängen: Lyrik ist Zufall.
Während jedes breit angelegte Kunstwerk zielbewusstes Arbeiten voraussetzt, ist in der Lyrik geradezu jedes Wollen ausgeschaltet; man sitzt in einem steuerlosen Boot, auf dem der Sehnsucht Wimpel weht, und hat dankbar zu sein, wenn sich die bunten Gärten der Erfüllung vor einem auftun. Ja, ich glaube nicht einmal an eine bewusste Formgebung in dem Sinne, daß etwa der Lyriker während des Schöpfungsprozesses ein eigenwilliges Bestimmungsvermögen hätte. Etwas löst sich von unserer Seele los, gerät in Schwingungen, deren Zahl wir nicht dirigieren können. Ich bitte hier zwischen Technik und Formwerdung zu unterscheiden. Das Lied selbst hat Gestalt und Klang in uns gewonnen, wir schreiben die Worte fast unbewußt, unter einem Zwang, nieder, und nun erst setzt die Technik ein und feilt und wägt und bessert. Aber das Wesenhafte war vordem vorhanden.
Die Technik allein bedeutet in der Lyrik nichts. Wir haben Formkünstler, die mit bewundernswerter Überlegenheit jede Linie, jeden Klang in ein harmonisches Verhältnis zueinander zu setzen vermögen und darum doch keine Dichter sind. Denn die Poesie hat ihren Quell in der fruchtbaren Phantasie, nicht im Verstande.
1.2. As lyricist
Neben Reger vertonten nur wenige Zeitgenossen lyrische Werke von Boelitz.
Parallelvertonungen zu Reger
- Max Schillings: Erlöst op. 17 (1903)
Weitere Vertonungen
- Hugo Wilhelm Ludwig Kaun: Holde Nacht, wie still bist du in Fünf Lieder op. 80 Nr. 3 (1908)
- Gustav Lewin: Lied der Frau (1910)
1. Reger-Bezug
Reger lernte Boelitz über seinen Freund Karl Straube kennen, der seit 1897 an der Willibrordi-Kirche in Wesel als Organist tätig war. Bereits im Mai 1901 erwog er, den Dichter um den Text zu einem »Christusoratorium« zu bitten (vgl. Brief vom 7. Mai 1901 an Straube), jedoch kam das Projekt nicht zur Ausführung. Nach den Zeitschriftenbeigaben Tragt, blaue Träume… WoO VII/31 und Ostern WoO VII/32 erschienen innerhalb der Sechzehn Gesänge op. 62, publiziert im April 1902, erstmals in einem Zyklus Lieder nach Texten von Boelitz, dem Reger am 3. Mai 1903 versicherte: “Sie wissen ja, es ist bei mir feststehende Tatsache, dass in jedem meiner Lieder-opera Sie vertreten sein werden! Darauf können Sie sich ebenso fest verlassen als darauf, dass die Sonne aufgeht und scheint!” (Brief). Tatsächlich findet sich in nahezu allen mit Opuszahlen versehenen Liederzyklen ab 1902 – mit Ausnahme der Opera 76 Bd. IV, 98 und 142 – mindestens ein Text von Boelitz, der mit 27 Vorlagen zum am häufigsten vertonten Dichter Regers avancierte. Insgesamt 13 Vertonungen erschienen innerhalb der Schlichten Weisen op. 76, darunter Mariä Wiegenlied (Nr. 52) – Regers erfolgreichste Komposition. In einer Rezension des Gedichtbands Frohe Ernte stellte Wilhelm von Wymetal im September 1905 fest: “Bemerkenswert ist, daß Boelitz bereits seinen Komponisten, und zwar in Max Reger, gefunden hat.”1
Neben den volkstümlich-schlichten Gedichten, die sich vor allem für Kinderlieder eigneten, schätzte Reger die sozial engagierte Lyrik des London-Zyklus, aus dem er Wehe! (op. 62 Nr. 1) und Präludium (op. 70 Nr. 1) in Musik setzte. Zum Erscheinen des Bands gratulierte er dem Autor mit den Worten: “Übrigens ein gehöriges Bravo, daß Sie in unserer kapitalschwangeren Zeit den Mut haben, soziale Gedichte zu schreiben! Auch gleich Ihnen bin ich der Ansicht, daß die „sogenannte soziale Gefahr“ größer ist, als wir eigentlich ahnen!” (Brief von Ende April 1901). Auflagen ab ca. 1903, von denen jedoch kein Exemplar eruierbar ist,2 sollten offenbar mit einer Widmung an Reger versehen werden.3
Boelitz fertigte für Reger wiederholt Abschriften von noch nicht gedruckten Gedichten an, darunter auch von den Nonnen, die bereits 1901 an den Komponisten in einer ersten Fassung gesandt, jedoch erst 1909 von diesem als vokalsymphonisches Werk (Opus 112) vertont wurden. Reger trat dabei schon früh mit Verbesserungsvorschlägen an den Dichter heran, den er aus musikalischen Gründen bat, u.a. zwei Wendungen “dringendst zu ändern: „Hundert helle Glocken etc.“. Mir erscheint es stimmungsvoller, wenn die Glocken nicht „hell“ sind – sondern mehr „traumhaft verschleierten“ Klang haben – ferner das Wort „hundert“! Als Anfangswort ist solch’ ein „brutal nüchterner“ Begriff „Hundert“, der zu sehr zu Witzen herausfordert, nicht geeignet zum Komponieren! […] Denken Sie eine solch’ tristan-übersinnlich-religiös sinnliche Stimmung – die kann nicht mit hundert beginnen!” (Brief vom 8. Juni 1901) In der 1905 innerhalb der Sammlung Frohe Ernte publizierten Fassung, die auch Vorlage für Regers Opus 112 war, findet sich zu Beginn ein Kompromiss: Das Wort »Hundert« entfiel, das Wort »helle« blieb bestehen.
Boelitz war in seiner Münchner Zeit ein “gern gesehener Gast”4 im Hause Reger und zusammen mit dem Münchner Schriftsteller-Kollegen Richard Braungart als einziges Mitglied von Regers Freundeskreis zu dessen standesamtlicher Hochzeit mit Elsa von Bercken am 25. Oktober 1902 geladen. Zu seiner eigenen Verheiratung plante Boelitz mit Reger den gemeinsamen Liedzyklus »Ehefrühling«, der jedoch nicht realisiert wurde.5
Object reference
Martin Boelitz, in: Reger-Werkausgabe, www.reger-werkausgabe.de/mri_pers_00321.html, last check: 8th November 2024.
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