München, 14th March 1903

Max Reger to Carl Lauterbach und Max Kuhn, Lauterbach & Kuhn

Object type
Letter
Date
14th March 1903 (source)
Sent location
München
Source location
DE,
Berlin,
Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz,
Musikabteilung,
Mus.ep. Max Reger 138

Senders
  • Max Reger

Incipit
Meine sehr verehrten Herren!
Viel schönsten Dank für Ihre beiden Briefe! Was Sie mir […]

Regesta
Konzertkritiken • sendet Verlagsschein zu [den Siebzehn Gesängen] op. 70 • Finger immer noch bandagiert, trotzdem spielt er im Konzert • Kroyer kann nicht den Artikel für Die Musik schreiben, nun soll dies Straube tun • Honorarfragen und Defizite bei Liederabenden • erläutert seine Art der Melodiegestaltung
Remarks
Referenced works

Publications

Max Reger, Briefe an die Verleger Lauterbach & Kuhn. Teil 1 [1902–05], hrsg. von Susanne Popp, Bonn 1993 (= Veröffentlichungen des Max-Reger-Instituts, Bd. 12), S. 108–113

1.

München, Wörthstraße 20 I
14. III. 1903.

Meine sehr verehrten Herren!
Viel schönsten Dank für Ihre beiden Briefe! Was Sie mir betr. der Berliner Kritik geschrieben haben – nun, das kann man nur unterschreiben! Bitte, lesen Sie auch, was Herr Heinrich Schöne im Mus. Wochenblatt über Orgelconcert am 4. März geschrieben hat,1 desgl. Herr Carl Kipke über Bergenliederabend!
Heute erhielt ich Nr. 11 der Allgemeinen Musikzeitung (Otto Leßmann) wo Seite 188, 189 ausführliche Kritik über Concert am 2. März steht! Ich bin erstaunt; diese Kritik ist in der That famos! Bitte, verschaffen Sie Sich dieselbe! Daß er mir vorwirft, daß ich keine Melodie habe – läßt mich ganz kalt – denn ich habe gesehen, daß die Berliner Tageskritik von A – Z aus lauter Borniertheit besteht; es ist geradezu erschreckend, welche imponierende Ignoranz da das künstlerische Urtheil fällt! Auch dem Herrn Kritiker, der in Allgemeiner Musikzeitung schrieb, scheint meine Harmonik derartig neuartig u. ungeheuerlich vorzukommen, daß er vor lauter Erstaunen über die Harmonik die Melodik nicht findet; dabei sind alle meine Lieder durch u. durch melodisch; allerdings ist der Begriff „Melodie“ bei mir anders zu nehmen, anders zu klassifizieren! Kurzum, ich lerne aus allen den Kritiken (Leipziger u. Berliner) nur das eine wieder evident bestätigt, was ich eben immer schon sagte: daß in keiner Kunst sich die Impotenz, Borniertheit, so breit macht wie in der Musik, daß eben unsere Musiker in Bezug auf Verständnis für Harmonie auf einem so betrübendst denkbar niedrigstem Niveau stehen, weil kurzum die Herren nichts gelernt haben!
Abgesehen von dem Wuthgeschrei der Berliner Kritik1, was ist da z. B. der Herr Smolian doch eigentlich für eine bedauernswürdige Existenz! Welches Armutszeugnis für seine Studien, seine geistigen Fähigkeiten stellt er sich selbst aus, wenn er einfach ablehnt, weil Accorde vorkommen, die ihm bis jetzt unbekannt waren! Und welche unglaubliche Arroganz liegt in den Besprechungen dieses Herrn Smolian! NB! Herr Smolian, der bisher in seinem Leben noch nichts als Komponist, Klavierspieler etc etc etc geleistet hat, urtheilt da mit der Miene eines Halbgottes über mich ab, der ich vor meinem 30. Lebensjahre schon längst den Beweis erbracht habe, daß ich auf keinem Holzwege wandle, daß meine Leistungen auf dem Gebiete des Liedes, der Orgel von unseren wirklich guten Musikern nicht so bagatellmäßig wie von Herrn Smolian abgetakelt werden! Gestern traf ich Herrn Zet (Fr. Liszt's früheren Privatsekretär) der mir sagte, daß er über das Konzert am 2. III. eine großartige Kritik irgendwo gelesen hätte, mir aber nochmals nachdrücklichst ans Herz legte, daß ich mich um all den Mist, den die Kerle von Kritikern schmierten nicht kümmern sollte! (Was auch geschieht)
Anbei finden Sie 2 Kritiken! Frl Huillier sang meine Sachen sehr schlecht; in echt französischer Leichtfertigkeit glaubte sie, mit Reger zu singen wäre es ein Kinderspiel; kurzum, sie hatte die Lieder einfach nicht studiert, so daß ich im Concerte in Freundlicher Vision, Morgen in [=die] ganze Gesangsmelodie mitspielen mußte, damit sie nicht umwarf.
Ferner finden Sie anbei noch den Verlagsschein von op. 70! Die Bemerkung betreff Aufführungsrecht habe ich hinzugeschrieben, da wir doch ausmachen, wenn das Gesetz zustande kommt, daß dann 1/2 u. 1/2 getheilt wird zwischen uns! Außerdem liegt bei eine 2 Pfennigkarte, die Sie in Leipzig besser gebrauchen können als ich hier in München, wo selbe ungültig ist!
Mein Finger ist so, daß ich noch mindestens 4 Wochen denselben in sorgfältigem Verbande tragen muß; ein tiefes, tiefes Loch u. alle Haut ganz weg! Sie können Sich denken, wie „angenehm“ ich mich am Donnerstag im Concert spielte; dabei Sachen von Hugo Wolf „wiederholender Weise“ zu begleiten hatte, von welchen Liedern Hugo Wolf selbst sagte, daß er selbst diese Gesänge nicht begleiten könnte! „Er ist's“ nehme ich genau doppelt so schnell als es gewöhnlich gemacht wird! Trotz meines scheußlichen Fingers soll ich am Mittwoch u. Donnerstag wieder – nach der Aussage des Publikums – eminent gespielt haben! Bitte, machen Sie Sich aber keine Sorge wegen des Fingers!
Anbei finden Sie auch eine Karte von Dr Th. Kroyer des Inhaltes, daß er den Artikel für die „Musik“ nicht schreiben kann; bitte, denken Sie von Dr Kroyer nicht, daß er nicht will! Der Mann steht mir gegenüber zu aufrichtig! Die Verhältnisse sind thatsächlich so, wie er sie schreibt! Also muß Freund Straube dran glauben u. werde ich also diesbezüglich noch an Straube schreiben!
Übrigens geht aus der geradezu maßlosen Wut der Berliner u. z.Th. Leipziger Kritik evident hervor, daß an meiner Kunst doch sehr sehr viel sein muß, sonst würden sich die Herren nicht so gewaltig aufregen!
Das Deficit für die Konzerte am 27. Februar u. 2. März beträgt zusammen
dazu
1310 M 20 Pf
150 M Beitrag Dessoir
150 M " Bergen
1610 M 20 Pf
Ich danke Ihnen herzlichst dafür, daß Sie diese Summe einstweilen für mich ausgelegt haben u. 400 M per anno mir abziehen!
Nun sind wir doch schon fast 8 Tage hier – Herr Bergen hat sich noch nicht bei mir blicken lassen! Augenscheinlich fühlt er sich nicht ganz „sicher“! Ich weiß nur das, daß ich für Bergen nie mehr zu Concerten einen Beitrag leisten werde! Denn dieses Geld ist wahrhaft 'nausgeworfen – besonders wenn er so gewissenlos haust u. trotz seiner kleinen Stimmmittel sich nicht besser in obacht nimmt. Nun hätte ich für heute alles geschrieben; morgen früh schreibe ich weiter! Einstweilen adieu!

Sonntag vormittag!
Besten Dank für soeben erhaltenen Brief! Die Kritik in Leßmann ist ganz vernünftig, wenn auch eben die Harmonik den Herrn eben so zu verblüffen scheint, daß er meine Melodik ganz übersieht!
Nun, Melodik im gewöhnlichen Sinne schreibe ich nicht! Aber Spaß halber: bitte machen Sie mal folgendes Experiment: nehmen Sie nur die Gesangsstimme eines Liedes vom gewiß melodiösen Rob. Schumann u. von mir u. vergleichen Sie, ob ich nicht mindestens eben so viel „Melodie“habe! Aber hören Sie: der Begriff „Melodie“ basiert bei 99o/ooo aller Musiker darauf, daß die Melodie cadenzmäßige harmonische Grundlage hat! Bitte, denken Sie mal im Verein mit K. Straube darüber nach, ob ich nicht recht habe – recht habe auch damit, daß selbst den patentierten Wagnerianern der Begriff der „unendlichen“ Melodie heute noch ein Buch mit 7 Siegeln ist! Die Geschichte wird unser Zeitalter später mal mit dem Zeichen versehen „daß die jetzigen zeitlebenden Komponisten in überwiegendster Mehrzahl nichts gelernt haben!“ Ich nenne keine Namen – aber ich weiß nur das, daß ich gerade im Concert Huillier Gelegenheit hatte mich von obiger Wahrheit gründlichst zu überzeugen! – Wie ich am 11 und 12. III letzthin hier spielen konnte, ist mir jetzt selbst ein Räthsel – denn mein Finger hat am Mittelgelenk ein ungeheures Loch! (Bis auf den Knochen, der frei liegt) Aber die Sache ist ohne Gefahr! So mindestens 4 Wochen muß ich noch den Verband tragen!
Heute abend werde ich noch an Straube schreiben! Er muß nun den Artikel für die „Musik“ schreiben! Bitte dringendst, erinnern Sie Herrn Straube nach Kräften an den Artikel! Und noch 2 Bitten: 1) versuchen Sie doch die Nr. der Berliner Musik= u. Theaterwelt zu erhalten, welche Nr. die Kritik über das Konzert am 2. März enthält! 2) bitte, theilen Sie mir mit, welches Defizit der Orgelabend am 4. März gegeben hat! Dieses Defizit bitte ich mir per anno 400[M so nach u. nach nebst den übrigen Defizits abzurechnen! Nun schönste Grüße an Sie, meine sehr verehrten Herren, an Frau Lauterbach,
Herrn Oberamtsrichter Kunze, Freund Straube – meine Frau
schließt sich meinen besten Grüßen an –
Ihr treuest ergebenster
Max Reger.

An Leßmann habe ich geschrieben; ihm mitgetheilt, daß ich den Ton der Berliner Tageskritik gegen mich nicht für „vornehm“ ansehen kann, ihm meine Freude darüber ausgedrückt, daß in seiner Zeitschrift anders geschrieben steht über 2. März als die Berliner Tageskritik es für gut gefunden hat zu schreiben! Mein Brief ist sehr ruhig, enthält aber gerade durch die Ruhe u. absolute Höflich keit mit der ich den Ton der Berliner Tageskritik erwähne wohl die beste Antwort auf die unqualifizierbare Art der Berliner Herren. Nun wir werden sehen, wer recht behält! Schönste Grüße an Sie alle! Hoffentlich finde ich balde in Leipzig eine „bleibende Statt“.

Object reference

Max Reger to Carl Lauterbach und Max Kuhn, Lauterbach & Kuhn, München, 14th March 1903, in: Reger-Werkausgabe, www.reger-werkausgabe.de/mri_postObj_01005277.html, version 3.1.0, 23rd December 2024.

Information

This is an object entry from the RWA encyclopaedia. Links and references to other objects within the encyclopaedia are currently not all active. These will be successively activated.