Phrasierungsbezeichnung in der Erstschrift Opus 19

Alexander Becker, Stefan König, Christopher Grafschmidt, Stefanie Steiner-Grage

1.

Während Reger die beiden Gesänge op. 19 in der im April 1898 geschriebenen Erstschrift durchgängig mit differenzierenden Phrasierungs- und Artikulationsbögen versah, verzichtete er beim Erstellen der Stichvorlage im Juli auf diese instruktive Ausgestaltung. Rolf Schönstedt vermutet, die Stichvorlage sei noch unfertig gewesen, als Reger sie zum Druck einreichte: »äußerst schwierige Lebensumstände müssen Reger irrtümlich bewogen haben, das spätere Manuskript dem Aibl-Verlag zum Erstdruck zu überlassen (unfertig; ohne jede Bogensetzung)«.1

Betrachtet man die Gesänge des Opus 19 aus der Perspektive der Orgel-solo-Werke, scheint dagegen das Vorhandensein der Bögen in der Erstschrift bemerkenswerter als deren Auslassung im Druck. Denn lediglich das 1894 als Zeitschriftenbeigabe veröffentlichte Choralvorspiel »Komm, süßer Tod!« WoO IV/3 weist eine differenzierte Phrasierungsbezeichnung auf, die hier stark von Hugo Riemanns Lehre beeinflusst ist – und die sich bei der Drucklegung als missverständlich erwies (vgl. WoO IV/3, Orthografische Besonderheiten). In den vorangegangenen Drei Stücken op. 7 (1892) und in der Suite e-moll op. 16 (1894/95) finden sich hingegen nahezu keine Bögen. Auch in den beiden ersten Choralphantasien Choralphantasien »Ein’ feste Burg ist unser Gott« op. 27 und »Freu dich sehr, o meine Seele!« op. 30 (August/September 1898) sowie in Phantasie und Fuge c-moll op. 29 (Oktober/November 1898) blieb Reger dieser Linie weitgehend treu.2 Erst mit der Sonate fis-moll op. 33 (Frühjahr 1899) und schließlich den Choralphantasien der Opera 40 (Herbst 1899) und 52 (1900) ändert sich sukzessive das Bild.3

Letztlich muss offen bleiben, wieso Reger gerade in seinen frühen Orgelwerken eine differenzierte Phrasierungs- und Artikulationsbezeichnung vermied. Es mag ein äußerliches Zeichen des bewussten Anknüpfens an die Orgelmusik J.S. Bachs darstellen,4 oder dem Charakter des Instruments Rechnung tragen, wie Reger ihn verstand.5 Auffallend ist, dass Reger schließlich für die Orgel eher weitgefasste Bögen vorschreibt.6

In den zeitgleich zu den Orgelwerken bis Opus 30 entstandenen Liedern, Klavier- und Kammermusikwerken verzichtet Reger jedenfalls nicht auf eine detaillierte Bogensetzung. Doch auch hier ist um das Jahr 1898 eine gewisse Umbruchsituation festzustellen, die Gerd Sievers zusammenfasst: »Opus 17 […] offenbart einen bunten Wechsel von teils echt Riemannschen Phrasierungsbogen und teils mehr artikulierenden als phrasierenden‚ jedenfalls gänzlich anti-Riemannnschen Phrasierungsbogen. – Einen ähnlich bunten Wechsel zeigen die weiteren Opera […]« (Die Grundlagen Hugo Riemanns bei Max Reger).

Als sicher darf gelten, dass Reger mit Bedacht die immerhin auch in einigen satztechnischen Details verbesserte Stichvorlage zum Druck gab. Mindestens vier Verlagen bot er die beiden Gesänge zwischen August 1898 und Januar 1899 zum Druck an (vgl. Herausgabe), bevor er sie im Februar bei Jos. Aibl zum Druck gab. Zeit und Gelegenheit genug also, seine Entscheidung vom Juli 1898 zu überdenken – zumal unterdessen die Erstschrift in seinem Besitz verblieben war (vgl. Zum Widmungsvermerk in der Erstschrift von Opus 19).


1
Das Geistliche Lied um Max Reger. Kompositionen von Max Reger | Karl Hasse | Othmar Schoeck für Singestimme(n) und Orgel, München, Strube Verlag, o.J. [1995], Edition 1341, Vorwort, S. 5.
2
Bögen finden sich hier systematisch bei Trillernachschlägen und als silbische Bindebögen im Cantus firmus, außerdem bei ausnotierten Arpeggien (wie stellenweise bereits in Opus 16) oder etwa bei Seufzermotiven.
3
Einen interessanten kleinen Hinweis, wie sich dabei auch Regers Haltung mit Blick auf ein bereits vorliegendes Werk entwickeln konnte, gibt die Abschrift der ersten Seite aus Opus 33, bei der Reger anderthalb Jahre später Bögen einfügte.
4
So schreibt Reger über sein Opus 7: »Ich habe daher in meinen Orgelsachen an Bach anzuknüpfen gesucht […] – ich habe eben auf die moderne Schreibweise für Orgel darin verzichtet. In meinen anderen Sachen stehe ich natürlich auf modernem Boden« (Brief vom 8. Dezember 1892 an den Verlag Augener & Co.).
5
Karl Straube skizziert aus der Rückschau eine Wende in der Orgelästhetik Regers in den Jahren 1898–1900: »Zweifellos ist Reger in den „Drei Orgelstücken“ (op. 7 […]) und in der Suite op. 16 beeinflußt durch den Klang der alten Orgeln, ebenso auch in op. 27, op. 29 Fantasie und Fuge (c-moll) […] op. 30 (Freu dich sehr, o meine Seele). Aber mit der fis-moll-Sonate [op. 33], mit den Orgelfantasien über „Wie schön leucht’t uns der Morgenstern“ [op. 40 Nr. 1] und „Straf mich nicht in deinem Zorn“ [op. 40 Nr. 2] verändert sich das Bild zugunsten der modernen Orgel.« (Brief vom 29. November 1946 an Fritz Stein)
6
Christoph Albrecht tilgt in seiner Ausgabe der Choralkantate »O Haupt voll Blut und Wunden« WoO V/4 Nr. 3 solche Phrasierungsbögen gar mit der Bergündung, dass sie »nicht der Phrasengliederung dienen, sondern nur noch das „sempre legato“ unterstützen. In A [Stichvorlage] und ED stehen z.B. die ersten 42 Takte unter einem Bogen!« (Max Reger. O Haupt voll Blut und Wunden. Choralkantate, Evangelische Verlagsanstalt Berlin, o.J. [1989], Revisionsbericht, S. [27]).
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Authors:
Alexander Becker, Stefan König, Christopher Grafschmidt, Stefanie Steiner-Grage

Date:
19th June 2019

Tags:
Module IISongsVol. II/7

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Citation

Alexander Becker, Stefan König, Christopher Grafschmidt, Stefanie Steiner-Grage: Phrasierungsbezeichnung in der Erstschrift Opus 19, in: Reger-Werkausgabe, www.reger-werkausgabe.de/rwa_post_00061, version 3.1.4, 11th April 2025.

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