Reger and the chorale cantata
Christopher Grafschmidt, Stefan König
1.
Regers Choralkantaten WoO V/4 wurden (und werden) oft mit Johann Sebastian Bachs Kantaten vor allem des Jahrgangs 1724/25 in Verbindung gebracht, doch liegt derartigen Vergleichen ein Missverständnis zugrunde. Anlässlich der Aufführung der Choralkantate Nr. 1 im Dezember 1911 in Meiningen klärte Reger seinen Dienstherrn Herzog Georg II. hierüber auf: “Die Form dieser Cantate – ich habe deren 4 geschrieben – weicht ganz u. gar von der Form der Bach’schen Cantaten ab. Bei mir ist der ganze Text des Chorales durchkomponiert – jede Strophe dem Inhalt des Textes nach verschieden.” (Brief) Neben den vier gedruckten Beiträgen »Vom Himmel hoch, da komm ich her« (Nr. 1), »O wie selig seid ihr doch, ihr Frommen« (Nr. 2), »O Haupt voll Blut und Wunden« (Nr. 3) und »Meinen Jesum lass ich nicht« (Nr. 4) war die – von Reger nicht mitgezählte – Kantate »Auferstanden, auferstanden« WoO V/4 Nr. 5 Fragment geblieben. Während Bachs Choralkantaten mit Rezitativen und Arien, mit Eingangschören und (Schluss-)Chorälen, mit einem Wechsel von Neudichtungen und originalen Choralstrophen sowie mit ihren orchestraleren Besetzungen insgesamt reicher sind, erscheinen Regers Kompositionen zurückgenommen. Dabei hatte sich Reger in den Jahren 1902 und 1903 mit dem Bach’schen Vorbild intensiv beschäftigt, indem er praktische Ausgaben der Kantaten »Wer nur den lieben Gott lässt walten« BWV 93 und »Es ist das Heil uns kommen her« BWV 9 erarbeitete.1
Die kompositorische Beschäftigung Regers mit dieser Gattung fällt in die Jahre 1903 bis 1906. Sie geht auf Anregungen Friedrich Spittas zurück, mit dem Reger durch seine Beiträge zur Monatschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst seit dem Spätjahr 1899 in Kontakt war (vgl. Choralvorspiele für Orgel). Spitta repräsentierte gemeinsam mit seinem Straßburger Theologenkollegen Julius Smend die (später so genannte) “ältere liturgische Bewegung” 2. In Straßburg konnte er “sein Idealkonzept des liturgischen Miteinanders von Chor, Gemeinde, Liturg erproben und umsetzen”.3 Unter anderem ging es ihm dabei darum, die Kirchenmusik vom Konzert zurück in den Gottesdienst zu holen. 1888 gründete er den Akademischen Kirchenchor, der die Gottesdienste in der Straßburger Thomaskirche musikalisch gestaltete, und erarbeitete gemeinsam mit Komponisten wie Albert Becker und Arnold Mendelssohn musikalische Formen für den Gottesdienst. Ab 1894 kam es zur engen Zusammenarbeit vor allem mit Heinrich von Herzogenberg, der neben fünf Zyklen liturgischer Gesänge auch drei Kirchen-Oratorien sowie die Choralkantate »Gott ist gegenwärtig« op. 106 schuf, bei denen – wie später bei Reger – neben Chor, Orchester und obligater Orgel auch der Gemeindegesang fest in die Partitur integriert ist.4
Herzogenbergs Beschreibung seines (außerhalb des Gottesdienstes angesiedelten) Passionsoratoriums op. 93 macht die verfolgten Ziele deutlich: “Zerfällt ein gefüllter Konzertsaal gewissermaßen in zwei Lager, die Ausführenden und die Aufnehmenden, so ist hier diese Trennung und die auf ihr beruhende Gegenwirkung nur eine äußerliche und scheinbare. Denn die zu einer musikalischen Andachtsstunde – nicht mit einem Kirchenkonzert zu verwechseln! – in der Kirche versammelte Gemeinde verbindet in sich beide Lager zu einer Einheit, ganz wie es im Gemeindegesange nicht eine singende und eine dem Gesang zuhörende Gruppe giebt. […] Der Komponist – ein Diener der Gemeinde wie der Organist – tritt in den Hintergrund, von wo aus er unbemerkt die Leitung der Andachtsstunde übernimmt”.5
Nach Herzogenbergs Tod im Jahr 1900 fokussierte sich Spittas Aufmerksamkeit auf Reger, der ihn Anfang 1901 um “den Text zu einer zusammenhängenden kirchlichen Komposition” bat (Erinnerungen Spitta). Spitta schlug ihm zur Vertonung das Osterspiel aus seinen Drei Kirchlichen Festspielen 6 vor, das den Einsatz von Gemeindegruppen vorsah und im Versmaß Kirchenliedern folgte. Doch die Realisierung des Projekts (RWV Anhang B6) scheiterte an unterschiedlichen ästhetischen Vorstellungen: Spitta missfielen die vom Komponisten angedachten “Stellen mit Pauken und Posaunen”, denn er fürchtete um den Tonfall “der schlichten Pastellmalerei dieser Verse”. (Erinnerungen) Darum ließ er das Projekt einschlafen.7 Stattdessen gelang es ihm, “Reger zu einer anderen Form der Kirchenmusik anzuregen, der […] Choralkantate” (Erinnerungen).
Bemerkenswert ist, dass Reger zwar Spittas Besetzungsvorschlägen folgte,8 seine inhaltlichen Intentionen jedoch keineswegs deckungsgleich mit denen des Theologen waren. Spitta hatte die Einbindung der Kantaten in das “Dialoggeschehen Gottesdienst” im Blick, “wo der Gemeindechoral musikalisch gesehen das bestimmende Subjekt, der maßgebliche Dialogpartner im „Wechselverkehr“ ist”.9 Als “intensivste Form solchen Dialogs” 10 verstand er den direkten Wechselgesang von Gemeinde und (idealerweise ihr gegenüber positioniertem) Chor, wie es in der halbstrophig-dialogischen Aufteilung der Kantate »O wie selig« WoO V/4 Nr. 2 realisiert ist. Für Reger steht – wie schon in seinen Choralphantasien für Orgel11 – die kompositorische Ausdeutung der einzelnen Strophen im Vordergrund. Die von Spitta vorgeschlagene Beschränkung der äußeren Mittel kam ihm hierbei durchaus entgegen: “Größtmöglichste Einfachheit bei doch reizvollster Abwechslung der einzelnen Verse war das Ideal dieser Bearbeitung” (Brief an Lauterbach & Kuhn).
Während etwa Herzogenbergs liturgische Werke zum Teil ausdrücklich für die akademischen Gottesdienste der Straßburger Thomaskirche konzipiert waren, konnte Reger lediglich für »Vom Himmel hoch« eine Aufführung durch Spittas dortigen Kirchengesangverein ankündigen.12 Dagegen bewarb Reger seine Choralkantaten in gewohnt weiten Kreisen.13 Sie erklangen nicht nur in Gottesdiensten, sondern vor allem in Kirchenkonzerten und auch im Konzertsaal14 – im November 1905 in der Berliner Philharmonie gar in Verbindung mit Gustav Mahlers »Auferstehungssinfonie«. Diese Verschiebung aus der liturgischen Einbettung in die Konzertsituation zeichnen schrittweise auch Regers Partiturangaben nach: Wo in Nr. 1 noch ausdrücklich die »Ganze Gemeinde« gefordert ist, nennt die Nr. 2 bereits den Chor als Alternative (“In Ermangelung von Gemeindegesang singt der Chor unisono”); Nr. 3 und 4 rechnen in den einschlägigen unisono-Strophen von Beginn an mit “Chor (evtl. Gemeindegesang)” bzw. einer Trennung in Halbchöre.15
Reger legte die Reihe seiner Choralkantaten auf Fortsetzung an: “Wie ich Herrn Dr Kuhn schon sagte, beabsichtige ich ähnlich wie „vom Himmel hoch da komm ich her“ [Nr. 1] in technisch leichtester Ausführung Choräle zu Pfingsten, Ostern, Erntefest, Totensonntag, Buß- und Bettag, Reformationsfest zu bearbeiten u. damit der ev. Kirchenmusik Werke zu geben, welche selbst der kleinste Ort zur Aufführung bringen kann! Damit ich überall die passenden Melodien wähle, werde ich mich mit Prof Spitta in Verbindung setzen, der mir darin wohl besten Rath erteilen kann!” (Brief, 26. November 1903). Auf die Absicht, gewissermaßen einen reduzierten Kantatenjahrgang zu komponieren, kam er in der Folge verschiedentlich zurück, allerdings sollte sich diese nie zu einem konkreten Plan verfestigen: Die Angaben zu Art und Anzahl der Kirchenfeste, die Reger mit Kantaten bedenken wollte, ist in seinen Briefen schwankend, und mit den letztlich fünf Kantaten wurden lediglich vier Termine des Kirchenjahres abgedeckt: das Weihnachtsfest (Nr. 1), die Passion (Nr. 3), das Osterfest (Nr. 5; verworfen) sowie der Totensonntag (Nr. 2; auch Nr. 4).
Durch ihre Einordnung zwischen den Choralphantasien einerseits und liturgischer Gebrauchsmusik (Opus 61, WoO VI/17) andererseits nehmen die Choralkantaten in Regers Schaffen eine Zwischenstellung ein. Darauf verweist auch seine Einschätzung als “Bearbeitungen” bzw. die Benennung als “gesetzt von” anstelle der üblichen Komponistenangabe in den Erstdrucken.
1.
Reger’s Chorale cantatas WoO V/4 were (and still are) often associated with Johann Sebastian Bach’s cantatas, particularly those from the 1724/25 cycle, but these kinds of comparison are based on a misunderstanding. On the occasion of the performance of Chorale cantata no. 1 in December 1911 in Meiningen, Reger explained to his employer Duke Georg II about this: “The form of this cantata – I have written 4 of these – is completely different from the form of the Bach cantatas. With my settings the complete text of the chorale is through-composed – each verse differently according to the content of the text.” (Letter) Alongside the four printed contributions “Vom Himmel hoch, da komm ich her” (no. 1), “O wie selig seid ihr doch, ihr Frommen” (no. 2), “O Haupt voll Blut und Wunden” (no. 3) and “Meinen Jesum lass ich nicht” (no. 4), the cantata “Auferstanden, auferstanden” WoO V/4 no. 5, not counted by Reger, remained incomplete. Whereas Bach’s chorale cantatas, with their recitatives and arias, opening choruses and (final) chorales, are altogether richer with their alternation of new poetry and original chorale verses and their more orchestral scorings, Reger’s compositions seem more restrained. And yet, in 1902 and 1903 Reger had immersed himself intensively in Bachian models by working on practical editions of the cantatas “Wer nur den lieben Gott lässt walten” BWV 93 and “Es ist das Heil uns kommen her” BWV 9.1
Reger’s compositional involvement with this genre occurred in the years 1903 to 1906. It goes back to suggestions from Friedrich Spitta, with whom Reger was in contact from late 1899 through his contributions to the periodical Monatschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst (see Choralvorspiele für Orgel [ger.]). Together with his Strasbourg theologian colleague Julius Smend, Spitta represented what later came to be called the “older liturgical movement” 2. In Strasbourg he was able to “try out and implement his ideal concept of the liturgical working together of choir, congregation and officiant”.3 Amongst other things, he was concerned to win church music back from concert situations into worship. In 1888 he founded the Akademischer Kirchenchor which led the services in St. Thomas’s Church Strasbourg, and he worked with composers such as Albert Becker and Arnold Mendelssohn on musical forms for worship. From 1894 onwards he worked closely with Heinrich von Herzogenberg in particular. As well as five cycles of liturgical songs, Herzogenberg composed three church oratorios and the Chorale cantata “Gott ist gegenwärtig” op. 106, in which – as with Reger later – congregational singing is firmly integrated into the score alongside the choir, orchestra and obbligato organ.4
Herzogenberg’s description of his Passion oratorio op. 93 (for extra-liturgical use) makes clear the aims he was pursuing: “Although a full concert hall divides to a certain extent into two camps, the performers and the receivers, here this division, and the reaction based on it, is only a superficial and apparent one. For the congregation gathered together in church for a musical devotional service – not to be confused with a church concert! – combines both camps into a unity in itself, just as in congregational singing there is not a group which sings and a group which listens. […] The composer – a servant of the congregation like the organist – recedes into the background, from where he takes over the direction of the devotional service unnoticed”.5
After Herzogenberg’s death in 1900 Spitta’s attention turned to Reger, who asked him at the beginning of 1901 for “the text for a continuous sacred composition” (Spitta’s memoirs [ger.]). Spitta suggested the Osterspiel from his Drei Kirchliche Festspiele 6 as suitable for setting, which envisaged the use of congregational groups and was written in meter, like church hymns. But the realisation of the project (RWV Anhang B6) fell through for various aesthetic reasons: Reger wanted “dramatic high points; but not so lyrically broadly elaborated” (letter to Straube). Spitta, however, disliked the “passages with timpani and trombones” which the composer envisaged, for he feared for the tone of “the simple pastel painting of these verses”. (Memoirs [ger.]) Because of that he abandoned the project.7 Instead, he succeeded in inspiring “Reger to compose another form of church music, the […] chorale cantata” (Memoirs [ger.]).
It is noticeable that although Reger followed Spitta’s suggestions for scoring,8 his intentions about content, however, in no way coincided with those of the theologian. Spitta had the integration of the cantatas into the “dialog of worship” in view, “where the congregational chorale, seen from a musical point of view, is the determining subject, the significant dialog partner in the ‘exchange’”.9 He recognized the direct antiphonal singing between congregation and choir (ideally placed opposite), as realized in the semi-strophic dialog-style division of the cantata “O wie selig” WoO V/4 no. 2 as the “most intensive form of such a dialog” 10. For Reger – as earlier in his Chorale fantasias for organ11 – the compositional interpretation of the individual verses was given priority. The limiting of external means suggested by Spitta fitted in absolutely with his aims: “The greatest possible simplicity with nevertheless the most charming alternation of the individual verses was the ideal with this arrangement”. (Letter to Lauterbach & Kuhn).
Whereas, for example, some of Herzogenberg’s liturgical works had been specifically composed for the academic church services at St. Thomas’s Church in Strasbourg, for his setting of “Vom Himmel hoch” Reger could only report a performance by Spitta’s local church choral society.12 By comparison Reger advertised his chorale cantatas in the usual broad circles.13 They were performed not only in church services, but particularly in church concerts and also in concert halls14 – in November 1905 in the Philharmonie Berlin, even in combination with Gustav Mahler’s “Resurrection Symphony”. This shift from the liturgical context to a concert situation was also gradually reflected in Reger’s markings in the scores: where the “whole congregation” is still explicitly required in no. 1, no. 2 already gives the choir as an alternative (“where there is no congregational singing, the choir sings in unison”); nos. 3 and 4 count on “chorus (possibly congregational singing)” or a division into semi-choruses in the relevant unison verses from the beginning onwards.15
Reger structured his series of chorale cantatas with an eye towards continuation: “As I have already said to Herr Dr Kuhn I intend, similar to ‘vom Himmel hoch da komm ich her’ [no. 1], to arrange chorales for Whitsun, Easter, Harvest Festival, Totensonntag [the Sunday before Advent on which the dead are commemorated], Buß- und Bettag [the day of prayer and repentance], Reformation Day which are technically easy, and thereby to furnish Protestant church music with works which can be performed even in the smallest place! So that I choose the appropriate melody in each case, I will be in touch with Prof Spitta who can give me the best advice about this!” (Letter, 26 November 1903) He returned to the idea of composing a reduced cycle of cantatas on various occasions, but this never developed into a firm plan: the details on the kind and number of church festivals which Reger wanted to provide with cantatas varies in his letters, and with what was ultimately five cantatas, just four dates in the church year were covered: Christmas (no. 1), Passiontide (no. 3), Easter (no. 5; discarded) and Totensonntag (no. 2; also no. 4).
Through their positioning between the chorale fantasias on the one hand and functional liturgical music (op. 61, WoO VI/17) on the other, the chorale cantatas occupy an intermediate position in Reger’s output. This is also indicated by his assessment of the works as “arrangements” and by designating them as “set by” instead of the usual composer’s details in the first printed editions.
About this Blogpost
Authors:
Christopher Grafschmidt, Stefan König
Translations:
Elizabeth Robinson (en)
Date:
8th August 2019
Tags:
Module IIVol. II/7
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Citation
Christopher Grafschmidt, Stefan König: Reger and the chorale cantata, in: Reger-Werkausgabe, www.reger-werkausgabe.de/rwa_post_00025, version 3.1.0-rc3, 20th December 2024.
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